Weiße Lügen und die Lücken der Geschichte

Namibia und Südafrika blicken auf eine Vergangenheit kolonialer Gewalt zurück, doch die Geschichtsbücher berichten nur von einzelnen "Helden". Kann historische Literatur den Opfern eine Stimme geben?

Als ich begann, meinen historischen Roman "The Scattering" zu schreiben, dachte ich viel über die menschliche Dimension der beiden Kolonialkriege nach, die im Zentrum des Romans stehen. Sowohl der Zweite Burenkrieg, der von den Briten gegen die Burenrepubliken geführt wurde, wie auch der Krieg der deutschen Kolonialherren gegen das Volk der Herero wirkten weit über ihre Grenzen hinaus und richteten dauerhaften Schaden an, der bis heute fortwirkt.

Was haben afrikanische Frauen während der Kolonialkriege erlebt?

Ein schwerwiegendes Problem ist, dass diejenigen historischen Aspekte, die Afrika und insbesondere die afrikanischen Frauen betreffen, nicht in den anerkannten historischen Aufzeichnungen enthalten sind. Ich forschte nach und alles, was ich fand, war Schweigen; ein Schweigen, von dem ich sicher war, dass es voller ungehörter Geschichten und vergessener Geschichte steckte.

Es gibt auf Shark Island in Namibia kein Schild, das die Menschen über die schreckliche Geschichte des Ortes aufklärt.

Luftaufnahme der ehemaligen Sklavenkolonie auf Shark Island in Namibia via iStock, © Sproetniek.

Die Geburtsstunde des Romans "The Scattering"

Ich begann mit der Arbeit an "The Scattering" aus einer Position der Unwissenheit heraus. Ich war gerade von einem Campingausflug auf die namibische Halbinsel Shark Island zurückgekehrt, als ich auf einer Buchmesse in Kapstadt zufällig eine Frau aus Windhoek kennenlernte. Von ihr erfuhr ich, was auf diesem Fleckchen Erde geschehen war, das am Rande der Namib-Wüste in den kalten, wilden Atlantik hinausragt. Es gibt vor Ort kein Schild, das die Menschen über die schreckliche Geschichte von Shark Island aufklärt. Zu Hause machte ich mich daran, über den Völkermord an den Herero zu recherchieren. Ich war beschämt, dass ich davon nichts gewusst hatte. Während meiner Lektüre zu diesem Thema kam mir ganz allmählich eine Geschichte in den Sinn, die mich nicht losließ, bis ich sie aufschrieb. Das war die Geburtsstunde von "The Scattering".

Bei meinen Recherchen stieß ich auf die Vorläufer der deutschen Todeslager in Namibia: die britischen Konzentrationslager in Südafrika während des Zweiten Burenkrieges, in denen die Briten vor allem burische Frauen und Kinder internierten. Für mich verläuft eine fast direkte Linie von diesen Gräueln zu den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs und zu den Nazis.

Versuchslabor Konzentrationslager

Im Laufe der Zeit kamen durch Ausprobieren tödliche "Verbesserungen" hinzu, während sich frische Leichen auf den Leichen der Vergangenheit auftürmten. In meiner Erzählung wollte ich diesen Zusammenhang sichtbar machen durch die Freundschaft zwischen Tjipuka, einer Herero-Frau, die die deutschen Todeslager in Namibia überlebt, und der Burin Riette, die die britischen Todeslager in Südafrika überlebt.
 

Leerstellen der Geschichte

Ein Großteil unserer Geschichtsschreibung beruht auf schriftlichen Dokumenten. Personen oder Kulturen, die keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben oder die man nicht für wichtig genug hielt, um über sie zu schreiben, kommen somit in der Geschichtsschreibung fast nicht vor. Ihre Geschichte spielt in den Fakten keine Rolle.

Es kann keine Wahrheit geben, in der ein Großteil der betroffenen Personen nicht zu Wort kommt.

Dies ist ein sehr schwerwiegendes Problem, wenn es um die Geschichte Afrikas geht, und insbesondere im Hinblick auf afrikanische Frauen. Es hat oft den Anschein, als habe die Geschichtsschreibung erst mit der Ankunft der männlichen Kolonisatoren auf dem Kontinent begonnen. Die Geschichte Afrikas wird fast ausschließlich aus einem einzigen Blickwinkel erzählt, und ich denke, wir sind uns alle einig, dass es keine Wahrheit geben kann, in der ein Großteil der betroffenen Personen nicht zu Wort kommt. 

Leerstellen der Geschichte

Man kann problemlos das Datum und den präzisen Wortlaut der Rede finden, in der Generalleutnant von Trotha zur Ermordung aller Herero innerhalb der Grenzen von Deutsch-Südwestafrika aufrief, aber gibt es Aufzeichnungen darüber, wie eine Herero-Frau auf diese Rede reagierte? Selbst die Geschichte einer weißen Afrikaaner-Frau wie meiner Figur Riette wird nur erzählt, soweit ihr Leben mit den Angelegenheiten der Männer zusammenhängt.

 

Die Stimmen der Frauen

An diesen eklatanten Leerstellen in den historischen Aufzeichnungen kann die historische Romanliteratur ansetzen und den unbeachteten Stimmen Gehör verschaffen. Wir müssen ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn wir die ganze Wahrheit über unsere Vergangenheit erfahren wollen. Es geht nicht um aus der Luft gegriffene Szenen und Figuren, sondern um Geschichten, die aus dem Vorhandenen entstehen, aus dem, was wir über die Menschen wissen, und aus unseren Vorstellungen, die beim Schreiben Gestalt annehmen.

Man kann problemlos den Wortlaut der Rede finden, in der Lothar von Trotha zur Ermordung aller Herero aufrief. Aber gibt es Aufzeichnungen darüber, wie eine Herero-Frau auf diese Rede reagierte?

Zweiter Burenkrieg, KZ-Gedenkstätte, Aliwal North, Südafrika via picture alliance © Neil Overy, imageBROKER.

Reale Personen treffen auf fiktive Figuren

Einige Figuren in "The Scattering" waren reale Personen: Häuptling Maharero, Lothar von Trotha, Kgosi Sekgoma Letsholathebe. Ich wusste, was sie getan hatten, und was die Folgen ihrer Taten waren; das ist alles schriftlich dokumentiert. Ich habe alles über diese Männer herausgefunden, was ich konnte, aber ich wollte sie zum Leben erwecken. 

Literatur schreibt Geschichte neu

Die berühmte historische Schriftstellerin Hilary Mantel, Autorin der mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Romane "Wolf Hall" und "Bring Up the Bodies", hielt 2017 im Rahmen der Reith Lectures im BBC-Radio einen Vortrag über diese stillen Leerstellen in der Geschichte. Sie sagte, Geschichte sei "das, was im Sieb zurückbleibt, wenn die Jahrhunderte hindurch gelaufen sind – ein paar Steine, Fragmente von Schriftstücken, Stofffetzen."

An diesen eklatanten Leerstellen kann die historische Romanliteratur ansetzen und den unbeachteten Stimmen Gehör verschaffen.

Herero-Frau in traditioneller Kleidung via iStock, © Rudolf Ernst.

Literatur schreibt Geschichte neu

Diese Überbleibsel, die im Sieb zurückbleiben, sind die Aufzeichnungen; alles, was fehlt, bildet den Raum, in dem ein historischer Schriftsteller seine Geschichte und seine Figuren aufbaut, wobei er die Überbleibsel als Richtschnur verwendet. Wie Mantel in der gleichen Vorlesung sagt: "Wenn wir den Toten begegnen wollen, wenden wir uns an die Kunst". Wie so oft ermöglicht die Kunst, das Fehlende zu ergänzen: die Gefühle, die Menschlichkeit. Die afrikanische Geschichtsschreibung hat einen großen Makel, und ich glaube, dass gewissenhafte Autoren historischer Romane dazu beitragen können, ihn zu korrigieren. Anhand der historischen Fakten, die das Skelett bilden, kann der Romanautor die Geschichten hervorholen, die sich in der Stille zwischen diesen Knochen verbergen. Vielleicht lernen wir auf diesem Wege irgendwann die ganze Geschichte kennen.

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