Amira El Ahl: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Die Kulturmittler:innen", dem ifa-Podcast zur auswärtigen Kulturpolitik. Mein Name ist Amira El Ahl und ich freue mich sehr, dass Sie bei dieser Episode wieder mit dabei sind. 2024 ist ein globales Superwahljahr. Der Economist hat nachgerechnet, in 76 Ländern wird oder wurde schon gewählt. Damit sind 4,2 Milliarden Menschen zu Wahlen aufgerufen, also mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung. In Indien, Russland und der Türkei wurde bereits gewählt. Bei uns stehen die Europawahlen Anfang Juni an und im Herbst wird in den USA gewählt. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang über Wahlbeeinflussung durch Russland berichtet. Warum und wie unter anderem Russland Desinformationskampagnen fährt und wie sich Staaten gegen solche Kampagnen schützen können, das wollen wir in dieser Episode von „Die Kulturmittler:innen“ diskutieren. Dazu spreche ich heute mit Dr. Stefan Meister. Er ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien. Vorher war er unter anderem Direktor des Südkaukasusbüros der Heinrich-Böll-Stiftung und mehrfach Wahlbeobachter für die OSZE und die EU. Herr Dr. Meister, herzlich willkommen bei den Kulturmittler:innen.
Stefan Meister: Danke für die Einladung.
Amira El Ahl: Sehr gern. Ich habe es schon in der Anmoderation gesagt, über die Hälfte der Weltbevölkerung darf dieses Jahr wählen. Einige Wahlen bekommen mehr Aufmerksamkeit, andere weniger. Sie waren schon mehrfach als Wahlbeobachter in ehemaligen Sowjetstaaten unterwegs. Was genau macht man als Wahlbeobachter? Nehmen Sie uns doch mal mit. Welche Befugnisse hat man und warum ist diese Arbeit so wichtig?
Stefan Meister: Es gibt Kurzzeit- und Langzeitwahlbeobachtung. Langzeitwahlbeobachtung heißt, dass man im ganzen Vorlauf der Wahl und auch danach beobachtet, wie die Wahlen vorbereitet werden, welche Rolle Medien auch im Kontext von Wahlen haben, wie der Wahlkampf stattfindet. Das heißt, man schaut sich den gesamten Prozess der Wahl an. Kurzzeitwahlbeobachter, das ist genau das, was ich gemacht habe, die sind dann vor allem auf den Wahltag selbst fokussiert. Das heißt, dass sie ein, zwei Tage vor der Wahl an den Ort fahren, an dem sie die Wahlbeobachtung durchführen oder in das Zentrum, in dem man das durchführt und dann wirklich am Wahltag in verschiedene Wahlstationen geht, wo man eben genau die Stimmabgabe beobachtet.
Und letztlich geht es darum: Wahlen sind ein Schlüsselelement einer Demokratie, im Sinne, dass die Bevölkerung ihre Stimme abgeben kann, um in einem Wettbewerb aus verschiedenen Kandidaten, Kandidatinnen auszuwählen. Und der Prozess, wie die Wahl selbst abläuft, ist natürlich sehr wichtig, dass das tatsächlich freie und faire Wahlen sind, die bestimmte internationale Standards erfüllen. Deswegen ist es wichtig, auch am Wahltag zu beobachten, inwieweit da zusätzlich Werbung gemacht wird, inwieweit Druck auf die Wähler und Wählerinnen ausgeübt wird, inwieweit die Stimmenauszählung auch richtig durchgeführt wird, das korrekt in Protokolle eingetragen wird und dann eben auch diese Protokolle mit den Ergebnissen am Ende übereinstimmen. Also sie schauen genau, wie das technisch abläuft am Wahltag.
Amira El Ahl: Freie und vor allem faire Wahlen ist ein gutes Stichwort. Russland steht immer wieder im Verdacht, Wahlen zu beeinflussen und Desinformationskampagnen zu fahren. Die USA zum Beispiel beschuldigen Russland, den Präsidentschaftswahlkampf 2016 gestört zu haben. Anfang diesen Jahres hat nun das Auswärtige Amt darüber berichtet, dass Russland mit über 50.000 gefälschten Nutzerkonten auf X, ehemals Twitter, gezielt falsche Informationen verbreitete. Warum macht Russland das? Welches Ziel verfolgt Präsident Putin damit?
Stefan Meister: Russland befindet sich ja aus seiner eigenen Perspektive seit mindestens zehn Jahren in einem Krieg mit dem Westen. In einem hybriden Krieg, in dem es darum geht, aus einer russischen Perspektive, dass Russland geschwächt wird, dass die Regierungen in Russland von westlichen Akteuren unterminiert werden und Systemwechsel, also Demokratisierung und Systemwechsel, in Russland schaffen wollen. Russland reagiert darauf, aus seiner eigenen Perspektive, indem es unsere Demokratien und Zusammenhalt in unserem System schwächt. Und da sind natürlich Wahlen ganz wichtig. Da ist Polarisierung wichtig. Und da geht es letztlich darum, das Vertrauen in Institutionen, in Politiker und Politikerinnen, in Institutionen wie Wahlen zu unterminieren. Russland schafft mit Desinformation keine neuen Themen, sondern es polarisiert Gesellschaften, in denen bestimmte Elemente von Polarisierung schon da sind. Es versucht, das Vertrauen in Institutionen und in Politiker und Politikerinnen zu schwächen, um unsere Handlungsfähigkeit zu schwächen, um Zusammenhalt in unseren Gesellschaften zu schwächen und damit in diesem Krieg in dem es sich befindet, in diesem Konflikt den Gegner dauerhaft zu schwächen und gleichzeitig aber auch Demokratien natürlich weltweit zu diskreditieren. Russland ist eine Autokratie, die Machterhalt als eines ihrer wichtigsten Ziele hat und die natürlich in einem Wettbewerb auch mit Demokratien ist. Man versucht, Demokratien weltweit auch deswegen zu schwächen.
Amira El Ahl: Sie waren Fellow an der Transatlantic Academy in Washington DC und haben dort zu russischen Desinformationen gearbeitet. Wie genau beeinflussen denn Staaten wie Russland andere Wahlen? Also wie funktionieren Desinformationskampagnen genau? Können Sie das erklären?
Stefan Meister: Also es gibt natürlich verschiedene Elemente, mit denen Sie das machen. Einerseits haben Sie russische Auslandsmedien wie Russia Today, das heißt jetzt RT, die bestimmte falsche Informationen oder teilweise falsche Informationen über Kandidaten, Kandidatinnen verbreiten. Dann haben Sie im Netz auch Fake Accounts in sozialen Medien, wo bestimmte Debatten polarisiert werden, verstärkt werden. Es gibt regelrecht auch Kampagnen gegen einzelne Politiker oder Politikerinnen, denen dann bestimmte Vorwürfe gemacht werden. Es gab diese Kampagne gegen Macron zum Beispiel bei seiner ersten ersten Wahl zum Präsidenten, wo behauptet wird, dass seine Frau eigentlich gar nicht seine Frau ist und dass er eigentlich auf Männer steht. Wo man versucht hat, ihn als Person zu diskreditieren. Oder wenn Sie sich den ersten Wahlkampf mit Trump anschauen, wo versucht worden ist, die demokratischen Wähler zu demobilisieren, indem eine Kampagne gegen Hillary Clinton, der damaligen demokratischen Präsidentschaftskandidatin, gefahren worden ist und sie diskreditiert worden ist und gleichzeitig die Narrative, die Trump verbreitet hat, nochmal durch Bots und durch eine Verstärkung in sozialen Medien nochmal weiter verbreitet worden ist. Sie versuchen, die Polarisierung, die schon da ist, zu stärken, weiterzutreiben. Und sie versuchen gleichzeitig, Personen auch zu diskreditieren.
Amira El Ahl: Da wurde ja auch im US-Wahlkampf ganz gezielt zum Beispiel die schwarze Bevölkerung versucht, abzuhalten, wählen zu gehen. Also solche Sachen wurden, glaube ich, auch gemacht. Welche Staaten stehen denn noch im Verdacht, Wahlen zu beeinflussen? Russland wird nicht das einzige Land sein, das das macht, oder?
Stefan Meister: Natürlich nicht. Wir haben einen starken Fokus auf Russland, zu Recht, weil Russland eben sehr aktiv ist in Deutschland insbesondere, aber auch natürlich in anderen europäischen Ländern. Aber China ist natürlich ein ganz wichtiger Akteur im Bereich Desinformation. Da geht es mehr um Spionage, Kontrolle von Exil-Chinesen und -Chinesinnen. Aber es geht natürlich auch um eine Schwächung von Demokratien. Iran ist ein weiterer Akteur, der hier auch aktiv ist. Das sind die wichtigen Akteure, die wir hier sehen, die auch in unserem Umfeld aktiv sind.
Amira El Ahl: Das wird sicherlich, gerade was China angeht, auch interessant bei den kommenden US-Wahlen. Aber wie schätzen Sie generell den Einfluss von Wahlbeeinflussung auf die bevorstehenden Europawahlen ein? Also wie hoch ist da die Gefahr?
Stefan Meister: Na gut, die Kampagne läuft jetzt schon eine ganze Weile auch von russischer Seite, um da eben vor allem auch die Kräfte zu stärken in dieser Wahl, die Polarisierung verstärken. Also vor allem rechte Parteien, die ja massiv zugewinnen werden bei diesen Europawahlen, die werden durch russische Akteure gestärkt. Die bekommen zum Beispiel Interviews auf russischen Plattformen oder von Russland finanzierten Plattformen, die dann wiederum in sozialen Medien verbreitet werden. Und sie werden gezielt auch Kampagnen wieder haben gegen andere Parteien. Das war in der Vergangenheit im Bundestagswahlkampf zum Beispiel so, dass die Grünen und vor allem Annalena Baerbock auch als Frau, aber eben auch die Grüne als Partei, massiv attackiert worden sind von russischen Kampagnen. Ähnliches werden wir jetzt auch wieder bei der Europawahl sehen. Die Akteure, die eine stärkere antirussische Politik aus russischer Sicht betreiben, eine starke Unterstützung auch für die Ukraine zeigen, dass die insbesondere ins Fadenkreuz von Kampagnen kommen, wo sie diskreditiert werden.
Amira El Ahl: Also das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, es ist so ein bisschen beides. Es ist zum einen eine Gefahr aus dem Ausland, weil es vom Ausland gesteuert wird, aber politische Akteure vor Ort profitieren auch davon und schlagen daraus dann wahrscheinlich auch Kapital.
Stefan Meister: Ja, das ist eine Interaktion. Das ist eine Interaktion zwischen radikalen Akteuren und auch russischen Akteuren. Und wir sehen, dass die AfD zum Beispiel aus einer russischen Perspektive ein wichtiger Partner auch ist für die Polarisierung in Deutschland. Dass es eine regelrechte Strategie gegeben hat, um mit der AfD stärker zusammenzuarbeiten. Und die AfD hat ja auch diesen Kontakt zu Russland gesucht. Das sehen wir im russischen Fernsehen, aber auch in russischen Auslandsmedien. Überproportional bekommen AfD-Politiker und Politikerinnen viel mehr Raum, um ihre Thesen, ihre Fake News, ihre Desinformationen in Teilen zu verbreiten. Und dann gleichzeitig werden diese Dinge natürlich auch von diesen Politikern und Politikerinnen geteilt. Das erzeugt dann auch ein Millionenpublikum. Sie brauchen diese Plattform nur, um dann wiederum von da eine Möglichkeit zu geben, diese Inhalte in eine viel breitere Hörer- oder Leserschicht zu bringen.
Amira El Ahl: Wir haben dieses Jahr bei den Europawahlen ein Novum, nämlich es können zum ersten Mal 16-Jährige schon bei der Wahl teilnehmen.
Aber gerade junge Menschen nutzen ja oft Online-Medien, um sich politisch zu bilden und weniger die traditionellen Medien. Besteht hier eine höhere Gefahr, durch Fake News und Bots, Trolle, wie auch immer, in die falsche Richtung gelenkt zu werden? Was heißt falsche Richtung? Aber eben, dass sie dadurch ihre politische Bildung erfahren?
Stefan Meister: Junge Leute sind natürlich auch Teil dieser Polarisierungsökonomie. Gerade TikTok spielt hier eine ganz wichtige Rolle. Wenn Sie sich das mal anschauen, Sie kommen gar nicht umhin, nicht irgendwann Filme der AfD zu sehen. Weil das Filme sind, die die Leute polarisieren und zu mehr Klicks führen oder zum größeren Interesse, diese Filme sich anzuschauen. In der Hinsicht sind junge Leute natürlich besonders Opfer von Desinformation, von Manipulation, weil sie eben keine klassischen Medien mehr in dem Maße konsumieren, sondern vor allem soziale Medien, wo viel mehr Manipulation, viel mehr Fake News sind und es eben auch sehr schwer ist, zu verifizieren, was ist jetzt fake und was ist tatsächlich real.
Amira El Ahl: In dem Zusammenhang fand ich ganz interessant, dass der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, am Wochenende nochmal verdeutlicht hat, was Umfragen und Studien bereits angekündigt haben, dass nämlich die Jungwähler in Europa vermutlich bei der EU-Wahl verstärkt rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien ihre Stimme geben werden. Das würde ja das stützen, was Sie gerade gesagt haben, dass man da eben gerade in den Online-Medien politisch eher die rechten Parteien sieht oder dass man da mehr Opfer von Manipulation werden kann.
Stefan Meister: Es gibt diese Umfrage, die jetzt kürzlich erschienen ist, die das sagt, dass gerade junge Leute eben sehr stark auch zu rechten Parteien tendieren. Ich denke, es liegt auch daran, dass rechte Parteien viel aktiver und viel professioneller in sozialen Medien agieren oder auch auf TikTok agieren als das sozusagen die etablierten Parteien tun. Weil sie in den Medien sich selbst nicht so widergespiegelt bekommen, wie sie sich das wünschen würden, also in den etablierten Medien, haben sich gerade auch rechte Parteien viel stärker auf soziale Medien fokussiert, um hier alternative Medienkanäle zu schaffen. Und da sind natürlich vor allem junge Leute dafür empfänglich, weil sie viel stärker in sozialen Medien unterwegs sind.
Amira El Ahl: Aber wie kann man denn dazu beitragen, politische Bildung ansprechend und verständlich zu gestalten, sodass man eben diese Fake News und Desinformationskampagnen, dass man dagegen gewappnet ist und vielleicht als traditionelle Partei irgendwie auch ein Gegengewicht sein kann?
Stefan Meister: Man muss auch als sogenannte traditionelle Partei aktiv sein in sozialen Medien. Man muss wirklich das auch als ein ganz wichtiges Element der eigenen Außendarstellung sehen und hier auch investieren. Es geht einfach um Professionalität des Umgangs mit sozialen Medien, um vor allem junge Leute zu erreichen. Und dann ist es der Klassiker. Es geht letztlich um Medienbildung. Dass auch an Schulen, öffentlichen Einrichtungen, Bundeszentrale und dergleichen, Medienbildung noch viel stärker ein Kern von Bildung wird. Der Umgang mit sozialen Medien, mit Fake News, mit Artificial Intelligence und diesen ganzen Dingen. Unser sehr traditionelles Bildungssystem hat viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf, jungen Menschen viel stärker Medienbildung zu lehren.
Amira El Ahl: Sie haben gerade KI angesprochen, also KI-generierte Deepfakes sind ja auch immer ein größer werdendes Problem, gerade auch bei den Fake News. Wie können wir denn Fake News und gezielte Desinformationskampagnen überhaupt erkennen und unterscheiden von echten News?
Stefan Meister: Ich denke, das wird immer schwerer. Es wird immer schwieriger, nachzuvollziehen, was ist tatsächlich manipuliert und was nicht. Das ist vielleicht der einfachere Ruf, aber es braucht eine bessere Regulierung dafür. Es muss klarer erkennbar sein, dass das ganze KI generiert ist, weil Sie können das irgendwann nicht mehr erkennen. Es ist menschlich nicht machbar, es muss maschinell erkannt werden und es muss in irgendeiner Hinsicht markiert sein, dass das nicht echt ist. Und ich denke, dass es hier eine ganz andere Form von Regulierung braucht oder auch sowas wie TikTok. Wir verlieren damit auch eine junge Generation in Teilen, weil der Algorithmus so angelegt ist, dass er eben polarisiert. Und ich denke, dass es hier auch eine Form von Regulierung braucht, weil Sie das letztlich irgendwann nicht mehr kontrollieren können und junge Leute auch nicht erkennen können. Sie brauchen einen ganz anderen gesetzlichen Rahmen, in dem diese Technik angewandt wird.
Amira El Ahl: Und dann ist natürlich auch die Frage, in Amerika wird gerade darüber diskutiert, TikTok komplett zu verbieten, aber das ist wahrscheinlich auch nicht die Lösung. Das kann ja nicht die Lösung sein, weil TikTok ist nicht die einzige Plattform, auf der Deepfakes stattfinden oder eben Fake News stattfinden.
Stefan Meister: Es ist immer problematisch, Technik oder Dinge einfach zu verbieten, weil sie dann an einer anderen Stelle wieder in einer anderen Form auftauchen werden. Und es wird natürlich auch Bildung, also Medienbildung, einfach nicht ersetzen. Das ist für mich immer noch ein Kern, dass junge Leute einfach auch sensibilisiert werden. Nicht nur junge Leute, aber vor allem junge Leute, sensibilisiert werden für diese Gefahren, die mit diesen Medien zusammenhängen. Aber ich glaube, es geht letztlich um Regulierung und auch eine Verantwortung, die die Konzerne selbst haben. Und ich denke, da müssen sie einen Rahmen schaffen, dass die Konzerne selbst ein Interesse daran haben, dass bestimmte Dinge sichtbar werden, weil sie sonst mit so hohen Strafen rechnen müssen oder eben mit Einschränkungen ihrer Möglichkeiten, dass sie das dann selbst kontrollieren. Da müssen einfach ganz andere Rahmen geschaffen werden. Aber das Problem ist natürlich auch, dass diejenigen Politiker, Politikerinnen, die das entscheiden, selbst überhaupt nicht überschauen können, was die Technik inzwischen alles kann.
Amira El Ahl: Ja, das stimmt. Wir haben über Wahlbeeinflussung Russlands durch Desinformation gesprochen. Häufig ist in diesen Kampagnen ja auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine Thema. Sie haben in einem Artikel für die Zeit schon vor zwei Jahren davor gewarnt, dass die russische Führung mit Propaganda und Desinformation versucht, die Diskurshoheit über den Ukraine-Krieg zu erlangen. Wie stark beeinflusst Desinformation den Krieg in der Ukraine und welche Auswirkungen hat das auf unsere, aber auch die russische Wahrnehmung auf den Krieg?
Stefan Meister: Wir müssen grundsätzlich verstehen, dass Teil der konventionellen Kriegsführung eben auch der Informationskrieg ist. Das ist Teil eines größeren Kriegskonzepts oder eines hybriden Kriegskonzeptes, in dem Sie verschiedene Elemente der Kriegsführung haben. Und von Anfang an gehört zu diesem konventionellen Krieg in der Ukraine eben auch ein Informationskrieg nicht nur gegenüber der Ukraine selbst oder der ukrainischen Gesellschaft, sondern auch gegenüber dem Westen und den Unterstützern der Ukraine. Ich würde sagen, dass Russland relativ erfolgreich ist mit seinen Narrativen, dass wir eben auch verstehen müssen, dass selbst Präsident Putin oder Außenminister Lawrow Desinformationen verbreiten und versuchen, uns zu manipulieren. Wenn Putin zum Beispiel über Nuklearkrieg oder eine Nukleargefahr redet, dann ist es Teil dieses Informationskriegs, indem er versucht, Ängste bei uns hervorzurufen. Dann reagieren wir darauf und diskutieren diese Dinge, obwohl sie real im Moment überhaupt nicht auf der Tagesordnung stehen. Auch ganz viele Elemente der Demobilisierung der Unterstützung der Ukraine kommen aus der russischen Desinformation. Russland ist auf einen langen Krieg vorbereitet, Russland hat keine Probleme mit den Sanktionen, unsere Gesellschaft unterstützt diesen Krieg nicht und will wieder billiges russisches Gas – das mag in Teilen stimmen, aber es stimmt eben in Teilen nicht und es wird durch diese russische Propaganda auch verstärkt. Diese ganzen Friedensappelle, die mit der russischen Realität zu tun haben, wo Putin immer wieder einstreut auch, wir sind bereit, zu verhandeln, aber dann offensichtlich Entscheidungen trifft, die ganz klar auf einen langen Krieg zielen. Also in der Hinsicht würde ich schon sagen, dass Russland hier relativ erfolgreich ist, dass wir die Narrative aus der russischen Desinformation in unseren klassischen Medien, aber natürlich auch in den sozialen Medien, diskutieren und sie im Prinzip unseren Diskurs mitbeeinflussen.
Amira El Ahl: Aber das finde ich ganz interessant, weil Sie sagen, dass diese Narrative auch in den klassischen Medien diskutiert werden: Wir geben natürlich Putin oder Lawrow oder wem auch immer, wenn sie ein offizielles Statement geben, diese Plattform, weil wir eine offene Mediengesellschaft haben und eine freie. Aber meinen Sie, man müsste das unterbinden oder kleiner machen, um ihnen nicht diese Plattform zu bieten, Ängste hervorzurufen oder Ängste zu schüren mit den Dingen, die sie sagen?
Stefan Meister: Nein, natürlich nicht, weil Sie werden ja nie diese Informationen aus der Öffentlichkeit heraushalten können und Sie sollten es auch nicht, weil wir eben offene Gesellschaften sind, wo alle Dinge sicher in irgendeiner Form, die nicht gegen das Grundgesetz verstoßen, diskutiert werden können und sollten. Es geht letztlich darum, wie viel Aufmerksamkeit man dem gibt, wie man das auch einordnet und einordnen lässt, also wie Expertise auch dafür genutzt wird, wie Medien reden, Fakten prüfen. Mein Eindruck ist, es geht immer mehr um Schnelligkeit, also dass man immer versucht, den neuesten Skandal immer schneller rauszubringen, ohne zu verifizieren, ist das jetzt eine Manipulation oder nicht. Dass es sehr viele Experten oder Expertinnen gibt, die nicht wirklich Experten sind, sondern einfach irgendwas zu diesem Thema sagen. Sehr viele haben Meinungen auch dazu, ohne mit Sachverstand sich diese Sachen anzuschauen. Die Frage von Schnelligkeit, die Frage von Fact-Checking, die Frage, macht Journalismus wirklich seine klassische Arbeit, scheint mir immer weiter in den Hintergrund zu rücken. Und mir fehlt dann oftmals die Einordnung, beziehungsweise ist der Skandal letztlich wichtiger als eine gute Medienarbeit.
Amira El Ahl: Sie hatten vorhin schon mal die hybride Kriegsführung angesprochen. Da würde ich gerne nochmal darauf zurückkommen, weil ja Russland sehr stark im Verdacht steht, seit dem Angriff auf die Ukraine zahlreiche Hackerangriffe auf Deutschland ausgeübt zu haben. Können Sie genauer erklären, was diese hybride Kriegsführung ist und vielleicht ein bis zwei Beispiele nennen?
Stefan Meister: Hybride Kriegsführung ist ein sehr ungenauer Begriff, der verschiedene Teile von Aggressionen eines Staates gegen einen anderen Staat beschreibt. Wie ich das vorhin schon meinte, Sie können einen konventionellen Krieg führen und parallel zu diesem konventionellen Krieg führen Sie Hackerattacken durch, Desinformationskampagnen, Diffamierungskampagnen. Sie versuchen, Gesellschaften zu zersetzen durch diese ganzen Kampagnen. Und das können Sie alles als Teil eines hybriden Kriegs sehen. Also Sie erkennen gar nicht mehr, dass das ein konventioneller Krieg in Teilen ist oder dass das überhaupt ein Krieg ist, formulieren wir es vielleicht mal so, sondern Sie merken dann nur durch Hackerattacken, durch Desinformationskampagnen, dass Sie in einem Krieg mit einem anderen Staat stehen. Das ist das Hybride daran.
Und es braucht möglicherweise noch nicht mal den konventionellen Teil, sondern es gibt eben nur diesen anderen Teil, der beschrieben ist mit Desinformation, mit Hackerattacken. Russland führt genau diesen hybriden Krieg gegen uns, also gegen die EU, gegen den Westen, gegen Deutschland, seit mindestens zehn Jahren. Und solche Elemente sind, dass sie versuchen, Informationen aus dem Bundestag durch eine Hackerattacke über bestimmte Abgeordnete zu bekommen, diese Informationen dann wiederum in sozialen Medien verwenden, verfälschen und Personen auch diffamieren oder auch bedrohen, erpressen, weil man diese Informationen von bestimmten Personen hat und damit natürlich auch eine Verunsicherung verbreiten. Indem immer wieder Attacken auf bestimmte Personen laufen, indem auch Personen in sozialen Medien attackiert werden und auch bedroht werden, versuchen sie natürlich, Ängste zu schüren. Leute ziehen sich möglicherweise zurück. Das sind alles Elemente von hybrider Kriegsführung.
Amira El Ahl: Und warum werden solche Hackerangriffe, weil Sie ja sagen, es ist eigentlich Kriegsführung, nicht als Kriegshandlung gegenüber Deutschland gewertet?
Stefan Meister: Weil wir gesetzlich letztlich da noch nicht sind. Wir haben noch nicht erkannt, dass der andere Staat sich mit uns bereits in einem Krieg befindet. Und wir haben es auch nicht anerkannt, weil das einerseits rechtlich nicht abgedeckt ist, aber andererseits auch, weil wir damit anerkennen müssen, dass wir in einem Krieg sind und dann entsprechende Maßnahmen auch ergreifen müssen. Zurückhacken zum Beispiel, möglicherweise Medien auch abschalten. Die müssten ganz anders Institutionen, von Verfassungsschutz über BND, ausstatten und darauf reagieren und das wollte man über viele Jahre nicht. Man wollte das letztlich auch nicht sehen. Aber es war natürlich auch zum Teil sehr schwer zu erkennen, was ist das eigentlich, und es auch zu definieren.
Amira El Ahl: Und ist da jetzt Deutschland besonders betroffen? Oder, Sie haben ja die EU auch schon erwähnt, geht es anderen Ländern in Europa nicht anders?
Stefan Meister: Natürlich ist nicht nur Deutschland davon betroffen, sondern es sind fast alle europäischen Staaten Ziel solcher Kampagnen. Aber man muss natürlich ganz klar sagen, Deutschland ist das zentrale Ziel dieser hybriden Kriegsführung, weil es so wichtig für die Europäische Union ist. Wenn sie Deutschland schwächen, dann schwächen sie wirtschaftlich das größte Land, im Prinzip die gesamte Europäische Union. Sie haben in der deutschen Gesellschaft eine besondere Empfänglichkeit für russische Desinformation. Das heißt, es ist relativ leicht, hier zu manipulieren. Und Sie haben natürlich auch, weil es diese langjährigen Wirtschaftsbeziehungen gibt, sehr viel Korruption durch russische Akteure. Korruption ist übrigens auch ein Teil der hybriden Kriegsführung. Das heißt, Sie haben Akteure, gerade in Deutschland, die dafür bezahlt werden, dass sie russische Desinformation verbreiten. Sie haben diese Mischung aus besonderer Bedeutung Deutschlands und besonderer Verletzlichkeit.
Amira El Ahl: Um vielleicht mit Lösungsansätzen oder vielleicht auch etwas hoffnungsvoller aus diesem Gespräch herauszugehen, Herr Meister: was können denn Organisationen, Medien, was kann die Zivilgesellschaft tun, um sich gegen solche Angriffe zu wappnen, damit wir auch weiterhin eine wehrhafte Demokratie bleiben?
Stefan Meister: Das Kuriose ist ja eigentlich, dass es vor allem bei Desinformation, bei dieser Form von hybrider Kriegsführung darum geht, dass man Polarisierung, Konflikte, die in Gesellschaften schon vorhanden sind, verstärkt. Sie verstärken diese Elemente von Hass, Attacken auf Politiker, Politikerinnen, Infragestellen von klassischen Medien. In der Hinsicht müssen wir einfach unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen als Gesellschaft mit diesem Hass, der in unseren Gesellschaften sich bereits befindet, der sich auch in den sozialen Medien befindet und da verbreitet wird, den müssen wir letztlich angehen. Wir müssen weniger Angriffsfläche für russische Kampagnen bieten. Das hat was mit Zivilgesellschaft zu tun, das hat was mit Qualität von Medien zu tun, das hat was mit Führung und mit Politik zu tun im Sinne von, dass man Verantwortung übernimmt als Gesellschaft, aber eben auch als Politiker und Politikerin. Und dann müssen Sie sich schützen, dann müssen Sie nicht nur in die Bundeswehr investieren, sondern Sie müssen auch in Geheimdienste investieren, Sie müssen in die ganze IT-Infrastruktur investieren. Sie müssen auch dazu in der Lage sein, zurückzuhacken, diese Dinge auch zu erkennen, die da stattfinden. Das hat auch etwas mit technischer Ausstattung zu tun. Und als Drittes müssen Sie letztlich den rechtlichen Rahmen schaffen, dass die großen Firmen, die den sozialen Medienmarkt dominieren, stärker Maßnahmen ergreifen. Dass es nicht so leicht ist, sie zu hacken, dass es nicht so leicht ist, Desinformationen zu verbreiten, Hate Speech zu verbreiten. Dafür können Sie natürlich auch rechtliche Regelungen finden. Ich sehe da eine ganze Reihe von Elementen, die wir tun können.
Amira El Ahl: Eine ganze Reihe von Dingen, die Sie jetzt gesagt haben, die man tun kann. Wie realistisch ist es, dass davon Dinge in der nahen Zukunft umgesetzt werden, Ihrer Meinung nach?
Stefan Meister: Ich denke, teilweise werden die Dinge ja schon umgesetzt. Teilweise gibt es ja eine neue Gesetzgebung im EU-Rahmen, auch im deutschen Rahmen, um bestimmte Dinge auch stärker zu kontrollieren und einzuschränken. Allein das Erkennen dieser Problematik – wir haben das ja lange nicht anerkannt, dass wir Ziel solcher Kampagnen sind – hat dazu geführt, dass verstärkt in Geheimdienste investiert wird, in bessere technische Ausstattung. Aber es ist natürlich alles viel zu langsam. In der Sicht würde ich sagen, es wird in Teilen schon umgesetzt, aber die andere Seite lernt natürlich ständig dazu. Diese Anpassungsfähigkeit, die Reaktionsfähigkeit, die müsste sich noch weiter beschleunigen und politisch müssten natürlich viel schneller Entscheidungen getroffen werden. Und da können wir tatsächlich noch ein ganzes Stück nachbessern.
Amira El Ahl: Das sagt Dr. Stefan Meister, Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien. Vielen Dank für das Gespräch und für die Einblicke und die Einordnungen, Herr Meister.
Stefan Meister: Sehr gerne.
Amira El Ahl: Wenn Ihnen der Podcast gefallen hat, dann empfehlen Sie die Folge doch gerne weiter. Wenn Sie noch mehr über Außenkulturpolitik erfahren möchten, dann hören Sie gerne eine unserer 60 Folgen der Kulturmittler:innen. Zum Beispiel das Gespräch mit Nadia Volkova, die mit der Menschenrechtsorganisation "5 AM Ukraine Coalition" Kriegsverbrechen im Krieg in der Ukraine dokumentiert. Diese und alle anderen Episoden finden Sie auf unserer Webseite ifa.de oder überall dort, wo es gute Podcasts gibt. Zum Beispiel bei Deezer, Apple Podcast oder Amazon Music. Dort können Sie die Kulturmittler:innen auch abonnieren und verpassen so keine der kommenden Episoden. Noch mehr zum ifa und unseren Projekten erfahren Sie auf unserer Webseite und unseren Social-Media-Kanälen. Auf Instagram finden Sie unser Profil mit dem Handle @ifa.de und auf LinkedIn als ifa Institut für Auslandsbeziehungen. Sollten Sie Fragen oder Hinweise zu den Kulturmittler:innen haben, dann schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an podcast(at)ifa.de. Damit sage ich tschüss, mein Name ist Amira El Ahl, danke fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal.