"Schmetterlinge im Kopf"

Traditionelle ukrainische Haarkränze zu fertigen ist eine Kunst, die heute kaum jemand beherrscht und die es zu bewahren gilt. Olena Afanasenko spricht im Interview mit Irina Peter über das Erhalten dieses Kulturerbes.

Ein dünner Draht wird mit Papier umwickelt und mit der Spitze in erhitztes Paraffin getaucht. Ist der wachsartige Tropfen getrocknet, landet er erneut im gefärbten Paraffin. Der Vorgang wird so lange wiederholt, bis der Tropfen die gewünschte Größe hat. Zwei bis drei Tausend solcher Tropfen sind nötig, um einen traditionellen ukrainischen Kranz zu fertigen. Eine Kunst, die heute kaum jemand beherrscht und die zu bewahren Olena Afanasenko (43) sich zur Aufgabe gemacht hat. Seit fünf Jahren setzt sie sich mit dem Projekt "Schmetterlinge im Kopf" ("Metelyky v golovi") dafür ein, dieses ukrainische Kulturerbe zu erhalten und bekannter zu machen. Im März verließ die studierte Philologin ihre Heimat Tscherkassy, 160 Kilometer südöstlich von Kyjiw, und lebt seitdem in Süddeutschland. Im Interview mit dem ifa erklärt sie die Besonderheiten ukrainischer Hochzeitskränze und warum es wichtiger denn je ist, die kulturelle Identität ihrer Heimat zu wahren.

Olena Afanasenko und ihre Kolleginnen fertigen traditionelle ukrainische Kränze wie diesen an, der typisch war im Dorf Schownyne (Жовнине) bei Tscherkassy © Metelyky v golovi

Was ist das Besondere an ukrainischem Kopfschmuck? 

Olena Afanasenko: Der traditionelle ukrainische Kopfschmuck war immer Teil einer Tracht. Je nach Region ist er ganz unterschiedlich. Es gibt ihn mit roten Pompons, ähnlich wie auf Hüten im Schwarzwald, oder als Kranz mit Blumenelementen aus Papier und Paraffin. Der Kranz symbolisierte ursprünglich die Jungfräulichkeit der Frau, vor allem bei einer Hochzeit. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren in vielen Regionen der Ukraine "Wachskränze" nach europäischem Vorbild verbreitet.
 

Die Kränze entstanden meist auf dem Land und wurden anfangs von Nonnen gefertigt. Sie tränkten dazu einfache Materialien in das wachsartige Paraffin und erstellten daraus kleinste Blumen, Blätter oder Tropfen. Sie sind sehr filigran und deshalb leicht zerbrechlich. Wenn wir in Dörfern nach solchen Hochzeitskränzen suchen, sagen die alten Frauen oft: Ich habe ihn meinen Enkeln zum Spielen gegeben und sie haben ihn kaputt gemacht. Deshalb gibt es kaum Originale. 

Wie finden Sie trotzdem diese seltenen Handarbeiten?

Afanasenko: In manchen Gegenden wurden die Hochzeitskränze glücklicherweise direkt nach der Feier in eine Hochzeitsvitrine gelegt, die das Paar ihr Leben lang aufbewahrte. In bestimmten Regionen, zum Beispiel um Winnyzja und Tscherkassy, wurde das häufig gemacht. Deshalb blieben hier Kränze bis in unsere Zeit erhalten. Sonst jedoch gibt es nur Fotografien. 

Wie sieht Ihre Arbeit zum Erhalt des ukrainischen Kulturerbes konkret aus?

Afanasenko: Wir stellen die Originale und nachgebaute Kränze in Museen aus. Ein Teil unseres Projekts "Metelyky v golovi" sind aber auch Interviews mit alten Frauen, die wir in ländlichen Gegenden besuchen. Ihr Wissen über Lieder oder Bräuche rund um die Kränze halten wir für die ethnografische Forschung fest. Zum Beispiel ging die Braut in vielen Regionen vor der Hochzeit auf den Friedhof, um ihre verstorbenen Verwandten zu diesem Fest einzuladen. Historische Bilder, neue Fotos nachgebauter Modelle und Texte zu diesem Thema teilen wir auch in den sozialen Medien. So wollen wir auch den Minderwertigkeitskomplex der Ukrainer beseitigen, die meinen, wir hätten eine "kleine Kultur".

Zeitzeugengespräch: Gemeinsam mit Kollegin Olena Pochtareva besucht Olena Afanasenko Frauen in ländlichen Gegenden, die früher Wachskränze hergestellt haben, und nach Bräuten, die in solchen Kränzen geheiratet haben © Metelyky v golovi

Viele meiner Landsleute verbinden viel Schmerz mit unserer Kultur, weil sie während der sowjetischen Okkupation 70 Jahre lang als bäuerlich und minderwertig galt. Unsere nationale Identität wurde in dieser Zeit unterdrückt und konnte sich bis zu unserer Unabhängigkeit 1991 schlecht entfalten. 

Was motiviert Sie?

Afanasenko: Ich sehe, dass es hier in Deutschland keinen Schmerz gibt in Bezug auf die kulturelle Identität. Denn Deutsche, so scheint mir, haben eine klare Vorstellung davon, was ihre Sprache, was ihr Glaube ist. In der Ukraine ist es nicht so. Deshalb gibt es bei uns Menschen, die glauben, man könne Ukrainer sein und gleichzeitig kein Ukrainisch beherrschen und unsere Kultur nicht kennen. Für mich ist das völlig unverständlich. Das kann so auch nicht funktionieren. Wenn man sich von seiner Kultur löst, dann kommt eine andere Kultur und ersetzt die eigene. In unserem Fall wäre das zu 100 Prozent die russische. Ich sehe den Wert der einzigartigen, ukrainischen Kultur und möchte ihn mit meiner Arbeit bewahren – auch um unsere nationale Souveränität zu stärken, gerade jetzt.

Auf diesem Bild trägt Oksana einen traditionellen Hochzeitskranz von ihrer Großmutter Tetyana Ivashko, einer sehr talentierten Kranzmacherin. Die Nachbildung des Kranzes ihrer Großmutter ist im Regionalmuseum für Heimatkunde von Tscherkassy ausgestellt. Foto: Pavel Androschtschyk (Павел Андрощук) © Metelyky v golovi

Wie wirkt sich der Krieg auf Ihre ethnographische Forschung aus?

Afanasenko: Wir arbeiten mit dem lebendigen Gedächtnis. Die Menschen, die wir noch nicht interviewt haben, werden das Ende des Krieges vielleicht nicht erleben. Wir werden ihr einzigartiges Wissen über Bräuche und handwerkliche Techniken vielleicht nie aufzeichnen können. Alles ist auf Halt: Wir können keine Vorträge an Unis oder Schulen halten, wohin wir oft eingeladen wurden. Wir können auch keine Workshops machen, bei denen wir alte Techniken und geschichtliche Hintergründe erklären und den Teilnehmenden beibringen. Wir haben eine große Sammlung von authentischen Kränzen und Rekonstruktionen. Sie durch einen Angriff zu verlieren, wäre furchtbar. 

Wie setzen Sie Ihre Arbeit in Deutschland fort?

Afanasenko: Nachdem mehrere Freunde ermordet und einige gefangen genommen wurden, hatte ich eine lange Zeit der kreativen Untätigkeit. Alles schien sinnlos. Ich hatte das große Glück, in Deutschland Menschen zu treffen, die mich unterstützten und mir halfen, wieder aktiv zu werden. Im August werden wir eine Ausstellung und Workshops mit Ethnographen in Polen haben, die ich derzeit mit meiner Kollegin vorbereite. Leider sind die Wartelisten für Deutschkurse lang. Ich hoffe, dass ich ab September in einen komme und so gut Deutsch lernen kann, um auch hier in Workshops und Vorträgen mein Wissen – auch generell zu unserer Geschichte und Kultur – teilen zu können. 

 

Interview durch
Irina Peter

Die Bloggerin Irina Peter ist 2022 ifa-Kulturassistentin. In Kasachstan geboren, lebt sie seit dem Kindheitsalter in Deutschland und hat vor einigen Jahren durch Familienforschung ihr Interesse zur Ukraine entdeckt. Ihre Vorfahren waren Wolhyniendeutsche. Als Kulturassistentin beim Rat der Deutschen der Ukraine / Рада німців України / Совет немцев Украины wird sie deutschstämmige Menschen aus der Ukraine zu ihren Erlebnissen und ihrer aktuellen Situation während des russischen Krieges gegen ihre Heimat interviewen. Ihre Geschichten werden online sowie im Rahmen einer Ausstellung am Ende des Jahres sichtbar gemacht.