ifa: Julia, Sie waren von 2015 an zwei Jahre lang ifa-Redakteurin bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) in Kasachstan. Wie haben Sie die Zeit in Almaty erlebt?
Julia Boxler: Mein Aufenthalt war sehr intensiv und lehrreich. Für mich persönlich war es eine Rückkehr in das Land, aus dem meine Familie vor 20 Jahren nach Deutschland emigriert ist. Das heißt, obwohl ich in Kasachstan geboren und die ersten zehn Jahre meines Lebens aufgewachsen bin und es kannte, habe ich die "alte Heimat" auf ganz neue Weise für mich wiederentdeckt.
Die "alte Heimat" wiederentdeckt
ifa: Wie wichtig war die Kenntnis von Land und Leuten für die Arbeit vor Ort - oder anders gefragt: Inwieweit ist die Arbeit auch etwas für jemanden ohne deutsch-kasachische Wurzeln?
Boxler: Natürlich sind Menschen ohne den kulturellen Hintergrund ebenso geeignet für die Arbeit bei der DAZ. Das ist sogar der Regelfall. Ich war interessanterweise die erste Russlanddeutsche oder besser gesagt Kasachstan-Deutsche – diese Selbstbezeichnung ist bei der Deutschen Minderheit vor Ort üblicher, die nach Almaty entsandt wurde. Was mir vielleicht etwas stärker bewusst war als Menschen, denen der Bezug zu dem Land fehlt, ist die Verschiedenartigkeit der politischen und gesellschaftlichen Systeme in Deutschland und Kasachstan. Es war eine lehrreiche Erfahrung in einem Land mit autokratischen Zügen journalistisch zu arbeiten.
ifa: Sie sprachen vom Begriff der "Kasachstan-Deutschen". Ist das eine Identität, die auch Sie teilen?
Boxler: Ich habe es vor Ort zumindest deutlicher als Teil meiner Identität erkannt. Dennoch wollte ich zunächst Abstand von den beruflichen Inhalten in Kasachstan gewinnen, als ich nach Deutschland zurückkehrte. Doch das Thema hat mich schnell wieder eingeholt.
Thema begleitet auch den weitern beruflichen Lebensweg
Inzwischen beschäftige ich mich auf vielfältige Weise mit meiner Herkunft im Speziellen aber auch mit postmigrantischen Themen im Allgemeinen. Ich arbeite im kulturellen und journalistischen Bereich und fördere einen progressiven Diskurs zu diesem Themenkomplex - als Filmemacherin und Podcast-Produzentin.
ifa: Welche Erfahrungen aus der Zeit als ifa-Redakteurin sind Ihnen für Ihre Arbeit heute wichtig?
Boxler: Insgesamt bin ich dankbar dafür, durch meine Entsendung viele verschiedene Sichtweisen auf Themen wie Migration, Identität, Postkolonialismus und auch den Heimatdiskurs gewonnen zu haben – zum einen durch die vielen neuen Freundschaften mit Einheimischen, die Arbeit vor Ort, aber auch durch den Austausch mit ifa-Entsandten in anderen Ländern. Das ist sehr nützlich für den Podcast X3, den ich zusammen mit meinen zwei Kolleginnen produziere. Wir haben da thematisch Neuland betreten, denn die russlanddeutsche und postsowjetische Lebenswelt, die wir in ganz unterschiedlichen Facetten beleuchten, ist hierzulande medial eher unterrepräsentiert. Ohne meine ifa-Zeit in Almaty würden mir so manches Expertenwissen und viele Erlebnisse fehlen. Facetten beleuchten, ist hierzulande medial eher unterrepräsentiert.
Interview von Holger Lühmann
In der Welt zuhause: 25 Jahre Entsendeprogramm
Von Deutschland aus in die Welt – um sich am Zielort wie zuhause zu fühlen. Das ist möglich im Entsendeprogramm des Bereichs "Integration und Medien" des Instituts für Auslandsbeziehungen. Seit 25 Jahren entsendet das ifa in Stuttgart Redakteurinnen und Redakteure sowie Kulturmanagerinnen und Kulturmanager in die deutschsprachigen Minderheiten Mittel- und Osteuropas.
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Über das Entsendeprogramm
Das Entsendeprogramm des ifa bietet Kulturmanagerinnen und -manager beziehungsweise Redakteurinnen und Redakteure die Möglichkeit, Organisationen deutscher Minderheiten zu unterstützen und neue Erfahrungen zu sammeln. Die Arbeitsaufenthalte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa oder in einem Staat der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten dauern zwischen einem und fünf Jahren. Ziel ist es, ein modernes und lebendiges Deutschlandbild zu vermitteln und die Organisationen vor Ort in ihrer kulturellen Brückenfunktion zwischen Minderheit und Mehrheit zu stärken.