Indigen zu sein, ist eine Wissensform

Der Künstler Gabriel Rossell Santillán arbeitet mit indigenen Gemeinschaften in Mexiko. Seine Videos, Fotografien und Bücher, die derzeit in der ifa-Galerie gezeigt werden, sind das Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Im Interview spricht er über Formen des Austausches und wie durch zeitgenössische Kunst ein vielstimmiger Raum entstehen kann.

ifa: Die Ausstellung "Eine natürliche Ordnung der Dinge" zeigt Werke von Lothar Baumgarten und Ihnen. Welche Impulse haben Sie von Lothar Baumgarten bekommen?

Gabriel Rossell Santillán: Von Baumgartens Arbeiten kann ich eine auswählen, die mir sehr wichtig ist. Es ist diejenige, bei der er in einer alten, dreieckigen Holzvitrine Laub und Äste gesammelt hat. Durch die Wärme wachsen Pilze, Insekten schlüpfen aus den Larven, das Ökosystem entsteht wieder. Und hier hinein legt er einen Teller, auf den er Flüsse mit Bleistift gezeichnet hat. Eine weitere wichtige Arbeit für mich ist das Cherokee Alphabet auf dem Glasdach des Carnegie Museum of Art in Pittsburgh. Dieses Alphabet haben die Cherokees entwickelt kurz bevor sie aus ihren Territorien umgesiedelt wurden – zum Sterben. Ein anderer wichtiger Impuls für mich ist, Lothar als Lehrer erlebt zu haben und zu sehen wie divers und verschieden die Künstler:innen sind, die aus seiner Klasse hervorgegangen sind.

Kollaboration mit indigenen Gemeinschaften als künstlerische Praxis

Lothar Baumgarten, Algarrobo, aus der Serie "Vom Aroma der Namen", Siebdruck, 1986, Kunstbestand des ifa, Foto: ifa

ifa: Lothar Baumgarten tritt als Autor in seinen Werken in Erscheinung. Wie verstehen Sie Autorschaft?

Rossell Santillán: Ich bin auch Autor, jedoch in einem anderen Sinn. Ich thematisiere die Aufteilung der Ressourcen: Welche Stimmen werden öfter gehört, wer hat und bekommt mehr Ressourcen, wie funktionieren Hierarchien und Privilegien in einem Arbeitszusammenhang. In meiner künstlerischen Praxis versuche ich nicht zu analysieren, zu interpretieren oder an Stelle der Wixárika zu sprechen. Ich versuche einen Raum zu öffnen, in dem die Wixárika-Gemeinschaft mit uns teilt, was sie brauchen oder für mitteilungsnotwendig hält.

Gabriel Rossell Santillán, La fiesta del maiz, im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem, zweites Zusammentreffen und Befragung der Wixárika-Opfergaben in Berlin-Dahlem, 2016, Foto: Guillermo Gudiño

ifa: Wie sind Sie mit der Wixárika-Gemeinschaft in Kontakt gekommen?

Rossell Santillán: Durch meine Schwester Arianna. Sie hatte mit der Wixárika-Gemeinschaft bereits gearbeitet, als ich angefangen habe, in Berlin zu studieren. Sie erzählte mir, dass es den Wunsch in der Wixárika-Gemeinschaft und einer NGO gibt, nach Berlin zu kommen, um die Opfergaben im Ethnologischen Museum in Dahlem zu sehen. Daraufhin entschieden wir, den Kontakt zu Richard Haas vom Museum herzustellen und so kam es zu der ersten Befragung und dem Wiedertreffen von Don Dionisio de la Rosa1 und Xaureme mit den Opfergaben und den zeremoniellen Utensilien.

Indigenes Wissen ist eine alternative Form der Erkenntnis

ifa: Was zeichnet diese Wixárika-Gemeinschaft aus?

Rossell Santillán: Indigen zu sein, ist keine Identität und keine Hautfarbe. Eher können wir es als eine Wissensform begreifen, ein Epistem, eine gedankliche Umgebung, in der man beispielsweise nichtmenschliche Subjekte in der Welt auszumachen sucht. Wer ernsthaft und regelmäßig Zeremonien vollzieht, spricht mit "achachilas", sakralen Wesen, mit den Bergen, Flüssen, dem See, den Steinen. Ich spreche mit den Steinen. Das ist das Erste. Dann kommen Hand und Geist zusammen, oder: Sähen und Ernten, die Zeremonien der Aussaat und der Ernte schaffen einen anderen Bezug zur Nahrung. Und letztlich geht es darum, Gemeinschaft stiften zu wollen. Und Gemeinschaft ist auch eine Umgebung des Wissens, eine epistemische Umgebung, eine Umgebung gemeinsamen Erkennens, des Erkennens von Vorgängen, des Wissens um das Tun, um das Tunkönnen2.

ifa: Konnten Sie Ihre Arbeit in der Gemeinschaft zeigen? Wie war die Reaktion darauf?

Rossel Santillán: Es existiert eine große Asymmetrie zwischen der Wixárika-Gemeinschaft und Kunstinstitutionen, wie zum Beispiel in Deutschland. Daher kann die Arbeit, die ich mit der Gemeinschaft mache, nicht dieselbe Form haben.

Gabriel Rosell Santillán, Altar del Venado, Mexiko, 2013, Foto: Gabriel Rossell Santillán

Das Video, das in der Ausstellung gezeigt wird, mit Don Niuweme, Don Agustin und Xaureme wurde in Wixárika übersetzt und es soll auf einem Treffen der Wixárika-Gemeinschaft gezeigt werden, um den Prozess des Projektes zu erklären. Über den Schnitt, den Ablauf und den Inhalt des Videos haben wir zusammen mit Don Niuweme, Don Agustin, Xaureme und Totupica entschieden, wir haben gemeinsam editiert und korrigiert mit dem Ziel, das Video in den Wixaritari-Gemeinschaften und in Deutschland zu zeigen.

ifa: Sie leben immer wieder Monate in den Gemeinschaften, mit denen Sie Kunstprojekte entwickeln. Wie beschreiben Sie Ihre Beziehung?

Rossel Santillán: Ich fühle mich als ein Freund.

Gabriel Rosell Santillán, Mesa de Venado, Mexiko, 2013, Foto: Gabriel Rossell Santillán

Kritik am Extraktivismus aus künstlerischer Perspektive

ifa: Sehen Sie Ihre Arbeit als künstlerische Forschung?

Rossel Santillán: Nein. Der Terminus Forschung hat heutzutage in der Wixárika-Gemeinschaft sowie in vielen anderen Gemeinschaften eine negative Konnotation. Denn dieser steht damit in Verbindung, dass wichtige Menschen in den Gemeinschaften ignoriert werden, eine Ausbeutung von Ressourcen und ein epistemischer Extraktivismus3 stattfinden sowie es zu einer einseitigen Aneignung von wichtigen Informationen kommt, die nicht in die ursprünglichen Gemeinschaften zurückkehren.

ifa: Welche Rolle spielt Ihre Arbeit im Bezug zu Dekolonisierung?

Rossel Santillán: Ich setze mich mit vielen dekolonial arbeitenden Autor:innen, die ich sehr schätze, auseinander. Was mich sorgt ist, dass die Dekolonialisierung zu einem Diskurs, einer Mode der Akademien und kulturellen Institutionen wird und letztlich Ressourcen produziert, die sich hervorragend in das vorhandene System der Ausbeutung fügen. Die Menschen, die von Anfang an eine sichere Position haben, werden diese behalten und wenn die Mode vorbei ist, werden die Frauen, Kinder, Menschen und anderen Wesen, welche das System ausbeutet, weiterhin von ihm unterdrückt werden.

Interview von Valérie Hammerbacher

Über den Künstler
Gabriel Rossell Santillán

wurde 1976 in Mexiko-Stadt geboren, er lebt und arbeitet in Berlin. 2006 bis 2008 war er Meisterschüler an der Universität der Künste Berlin bei Prof. Lothar Baumgarten. 2002 bis 2006 Studium der Bildenden Kunst, Universität der Künste Berlin bei Prof.in Rebecca Horn und Prof. Lothar Baumgarten. 1998 bis 2002 Studium der Fotografie und Bildenden Kunst an der Universidad Complutense de Madrid, Spanien, bei Prof.in Cristina Garcia Rodero. 1998 Studienaufenthalt in Italien. 1996 bis 1997 Studium der Architektur, Malerei und Zeichnung an der Universidad Nacional Autónoma de México.