Junge sitzt am Schreibtisch bei Kinderbetreuung

"Wir brauchen jetzt Freunde, die uns nicht im Stich lassen"

Vom Jugendzentrum zum Flüchtlingslager: Die Institutionen der deutschen Minderheit in und um die Ukraine stemmen sich unermüdlich gegen die humanitären Auswirkungen des Krieges. Wie bewältigen sie den Ausnahmezustand? Worauf hoffen sie? Und welche Rolle spielen interkulturelle Freundschaften?

Wenn ich abends ins Bett gehe, weiß ich nicht, welches Leben mich am nächsten Morgen erwartet.

Seit Ende Februar lebt Julia Taips, Leiterin der ifa-Partnerorganisation "Deutsche Jugend in Transkarpatien" im Ausnahmezustand. Wo Anfang des Jahres noch Sprachkurse, Stadtrallyes und Kulturveranstaltungen für junge Ukrainer:innen aus der deutschen Minderheit auf dem Tagesplan standen, beherrscht heute der Krieg den Alltag.

Sammellager der Deutschen Jugend in Transkarpatien © Julia Taips

Ein Jugendzentrum wird Anlaufstelle für Geflüchtete

Das einstige Jugendzentrum ist zum Flüchtlings-, Hilfs- und Verteilungslager geworden. Menschen, die bisher Bildungs- und Kulturangebote auf die Beine stellten, leisten nun als Freiwillige unermüdlich Hilfe, wo sie nur können.  "Wir kümmern uns um Geflüchtete, empfangen Hilfsgüter, verteilen sie vor Ort und organisieren Transporte nach Kyiv und in andere belagerte Städte", erklärt Julia Taips das Engagement ihrer Organisation.

Rund 380.000 Binnenflüchtlinge in Transkarpatien

Die Flüchtlingsbewegung aus den umkämpften Gebieten im Norden und Osten der Ukraine führt aktuell Millionen von Menschen in Regionen abseits der Angriffe. 380.000 Binnenflüchtlinge befinden sich Anfang April allein in Transkarpatien, einem multikulturell geprägten Grenzgebiet im Südwesten der Ukraine. Für viele von ihnen ist hier vorerst die Endstation ihrer Flucht erreicht. "Die Region grenzt an vier EU-Länder. Viele Menschen, die zwar ihre Heimat verlassen mussten, aber in der Ukraine bleiben wollen, sind hier vorerst in Sicherheit", erklärt Julia Taips. Mehrmals täglich höre man zwar den Luftalarm, doch bisher habe die Region zum Glück keine militärischen Angriffe erlebt.

Grenzüberschreitende Hilfe unter den deutschen Minderheiten

Die Situation der Menschen in den umkämpften Gebieten bleibt hingegen unübersichtlich. "Dort, wo die militärischen Handlungen laufen, wo schon ganze Städte zerstört sind und wir es mit einer humanitären Katastrophe zu tun haben, ist die Kommunikation mit unseren Partner:innen schwierig", so Bernard Gaida. Er ist der Vorsitzende des Verbands der sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, der Dachorganisation der deutschen Minderheit.

Mit einer Gruppe der deutschen Minderheit im schwer beschossenen Mariupol habe er seit Ausbruch des Krieges keinen Kontakt mehr herstellen können: "Kein Wunder – sie haben dort keinen Strom, kein Wasser, keine Lebensmittel", sagt er. Der Sitz der deutschen Minderheit dort ist von den Angriffen inzwischen vollständig zerstört worden. Auch der Vorsitzende des Rats der Deutschen in der Ukraine in Kyiv, Wolodymyr Leysle, könne die Kommunikation nur schwer aufrechterhalten. "Er korrespondiert laufend mit uns – aber wie er sagt unter Beschuss und aus dem Keller."

Jugendzentrum wird Flüchtlingslager: Das Engagement ist groß

Die Anteilnahme der Menschen in den umliegenden Staaten ist seit Ausbruch der Invasion groß. Auch die deutsche Minderheit stemmt sich im Angesicht des Krieges unermüdlich gegen die humanitäre Katastrophe in der Ukraine.

Um schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten, wurde zum Beispiel ein Jugendzentrum im rumänischen Bekokten zum Flüchtlingslager umfunktioniert. Die ifa-Partnerorganisation "Jugendzentrum Seligstadt" stellt ihre Räumlichkeiten seit Ausbruch des Krieges im Februar hilfsbedürftigen Menschen aus der Ukraine zur Verfügung. "Die Kommunikation ist eine der größten Herausforderungen", erzählt ifa-Kulturmanagerin Cornelia Hemmann, die an der Institution normalerweise Jugend- und Bildungsprojekte für Kinder der deutschen Minderheit organisiert. "Wir haben keinen Dolmetscher und können meist nur das Nötigste übersetzen. Tiefergehende Gespräche sind kaum möglich".

"Wir können meist nur das Nötigste übersetzen"

Dennoch sollen Menschen im Jugendzentrum die Möglichkeit haben, durchzuatmen und Ruhe zu finden. Im Rahmen eines schnell auf die Beine gestellten Projekts bietet Hemmann Betreuungsangebote, vor allem für geflüchtete Kinder, an – ein Zoobesuch, ein Bastelnachmittag, eine Pferdewagenfahrt. Kleine Momente der Ablenkung im dauerhaften Ausnahmezustand. Rund 100 Geflüchtete sind bisher im Jugendzentrum in Bekokten angekommen. Die meisten von ihnen sind auf der Durchreise, wollen weiter in Richtung Europa.

ifa-Sprinter auf dem Weg zum Flüchtlingszentrum an der polnisch-ukrainischen Grenze © Lucas Netter

Interkulturelle Beziehungen­ sind jetzt wichtiger denn je

Auch das ifa-Team aus Stuttgart stellte kurzerhand eine private Spendenaktion auf die Beine und konnte durch die Hilfsbereitschaft von Kolleg:innen und Privatpersonen einen Transporter mit Hilfsgütern, vor allem Babynahrung und -artikel, nach Polen bringen. Dort wurden sie von einer professionellen Organisation weiterverteilt.

Unterstützung für die geflüchteten Ukrainer:innen kommt auch aus Stuttgart

Julia Taips und die "Deutsche Jugend in Transkarpatien" erreichen ebenfalls zahlreiche Unterstützungsangebote aus dem europäischen Ausland. Der ifa-Partner "Karpatendeutscher Verein" zum Beispiel organisiert seit Ausbruch des Angriffskriegs mehrere Transporte mit Hilfsgütern wie Lebensmittel, Isomatten und Akkugeräten, die an der Grenze direkt dem Team der Deutschen Jugend übergeben wurden.

Alle Partner:innen haben sich nach Ausbruch des Krieges bei uns gemeldet und sofort ihre Hilfe angeboten. Das ist wahre Partnerschaft! Das sind die Freunde, die uns nicht im Stich lassen. Ich bin sehr dankbar für diesen Zusammenhalt.

Dankbar für den Zusammenhalt

"Dieses Netzwerk ist in der aktuellen Situation extrem wichtig", sagt Taips. Mit ihrem Engagement ist die ifa-Gastinstitution inzwischen zu einem zentralen Anlaufpunkt für Hilfsangebote aus ganz Europa geworden. "Wir haben in der Vergangenheit ein gutes Netz an Partner:innen aus Europa und Deutschland aufbauen können", so Taips. Man vertraut sich gegenseitig, kennt die Arbeit des jeweils anderen.

Diese Transparenz und Verbundenheit machen im Angesicht der Katastrophe einen zentralen Unterschied. "Alle Partner:innen haben sich nach Ausbruch des Krieges bei uns gemeldet und sofort ihre Hilfe angeboten. Das ist wahre Partnerschaft! Das sind die Freunde, die uns nicht im Stich lassen. Ich bin sehr dankbar für diesen Zusammenhalt", sagt Taips.

Hilfslieferung für den ifa-Partner "Karpatendeutscher Verein" © Patrick Vosen