Olga Karatch formt ein Herz mit ihren Händen.

"Frauen fordern die politische Scheidung"

Die Proteste in Belarus dauern seit August 2020 an und immer mehr Menschen lehnen sich gegen Präsident Lukaschenko auf. Zuletzt machte die versuchte Entführung der belarussischen Sportlerin Kristina Timanowskaja bei den Olympischen Spielen internationale Schlagzeilen. Olga Karatch, Aktivistin der belarussischen Opposition und Gründerin von "Our House", spricht über den Auslöser der Aufstände und warum Frauen an der Spitze des Widerstands stehen.

ifa: Olga, die Proteste in Belarus begannen im Sommer 2020 als eine Reaktion auf die manipulierte Wahl in Ihrem Land. Welchen Eindruck haben Sie von der gegenwärtigen Situation ein Jahr nach dem Beginn der Proteste?

Olga Karatch: Ein Jahr nach Beginn der Proteste begreifen wir, dass das, was 2020 passiert ist, nicht das Ende, sondern lediglich der Anfang unseres Kampfes um unsere Rechte ist. Die Situation in Belarus hat sich bis heute nicht stabilisiert – die Menschen leiden immer noch unter Unterdrückung, Folter und Demütigungen. Das ganze Land befindet sich zurzeit unter einem großen Trauma.
Leider hat die Führung der demokratischen Kräfte sehr viele Fehler gemacht, die es Lukaschenko ermöglicht haben, seine Macht auszuweiten. Wir müssen anerkennen, dass wir im August 2020 sehr viel näher an einem Sieg waren als heute. Nichtsdestotrotz sehen wir auch, dass die belarussische Gesellschaft nicht aufgibt.

ifa: Frauen stehen nicht nur an der Spitze der politischen Opposition, sondern auch des zivilen Widerstands. Warum haben sie beschlossen, Stellung zu beziehen?

Karatch: Das ist eine interessante Frage! Man könnte auch fragen, warum sie seit so vielen Jahren geschlafen haben. Drei Jahre nach der Unabhängigkeit von Belarus tritt Lukaschenko 1994 an die Macht. Nach der ersten demokratischen Wahl, die jemals gehalten wurde. Für uns war er der Prinz, der uns die Freiheit gewährte. Bis vor Kurzem waren Frauen Lukaschenkos Kernwählerschaft, weil sie großzügige soziale Absicherungen erhielten, wie zum Beispiel drei Jahre Elternzeit. Es gab ein ungeschriebenes soziales Abkommen zwischen ihm und den Frauen im Land  "Ich ernähre Euch, solange ihr ruhig bleibt". Doch sie erkannten, dass sein sogenannter sozialer Schutz ein Betrug war und dass sie diese Art von "Prinzen" nicht mehr möchten, dass sie die Kontrolle übernehmen und sich entscheiden müssen, wie sie ein besseres Leben führen können.

Drei Frauen in roten Mänteln stehen zusammen und schwenken weißen Flaggen mit einem roten Querstreifen.
Solidarische Aktion nahe der belarussischen Botschaft in Vilnius, © private/Olga Karatch

"Frauen haben ihre Einstellungen geändert"

ifa: Was führte zu der Aushöhlung dieser sozialen Vereinbarung?

Karatch: Frauen waren schon immer in einer Zwangslage zwischen der Betreuung ihrer Kinder und der Pflege ihrer Eltern. Sie sind es leid, dass Lukaschenko die wirtschaftlichen Probleme des Landes auf Kosten ihrer unbezahlten und unsichtbaren Arbeit löst. Zudem hat er einige der früheren sozialen Absicherungen beschnitten, zum Beispiel wurde die Kinderbetreuung auf etwa 20 Prozent eines Durchschnittsgehalts gekürzt! Die Werte und Einstellungen der Frauen haben sich geändert – sie haben mehr als genug von Lukaschenkos frauenfeindlichem politischem Stil und fordern die politische Scheidung.

ifa: Was sind die größten Herausforderungen in Bezug auf Frauenrechte und Gleichstellung in Belarus?

Karatch: Es gibt so viele! Häusliche Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein großes Problem. 2018 hat Lukaschenko einen Gesetzesentwurf zur Kriminalisierung häuslicher Gewalt abgelehnt und nannte dies "Blödsinn aus dem Westen". Eine weitere Herausforderung ist die institutionalisierte Diskriminierung. Es gibt Berufsverbote für Frauen in 181 Berufen. Sie dürfen zum Beispiel nicht als Holzfällerin, Schmiedin, Bergarbeiterin oder Lkw-Fahrerin auf internationalen Strecken arbeiten. Besonders die Frauen, die politisch aktiv sind, riskieren es, Opfer von staatlicher Gewalt zu werden. Werden sie festgenommen, so wird ihnen sexuelle Gewalt, Folter oder die Entziehung ihrer Kinder angedroht – und allzu oft werden sie Opfer dieser Verbrechen. Gemäß Verordnung Nr. 18 darf der Staat ein Kind aus der Familie nehmen, wenn Frauen "ihre elterlichen Pflichten nicht ordnungsgemäß ausführen". Doch das Gesetz enthält keine klare Definition darüber, was "nicht ordnungsgemäß" bedeutet, dies ebnet den Weg für Machtmissbrauch.

Das von Lukaschenko aufgestellte System ist nicht fair

ifa: Hat sich die Rolle und der Status von Frauen in Belarus aufgrund der Proteste verändert?

Karatch: Da in Belarus viele männliche, demokratische Führungspersonen 2020 inhaftiert wurden, gab es praktisch niemanden, der fähig war, die Proteste zu organisieren. So erschienen Frauen bei Massenkundgebungen in dem klaren Bewusstsein, dass Lukaschenko, der sie ständig demütigt und nicht respektiert, sich früher oder später mit ihnen befassen wird. Sehr viele belarussische Frauen haben erkannt, dass das von Lukaschenko aufgestellte System in Bezug auf viele soziale Fragen wie Kinderbetreuung, Renten oder Lohngleichheit nicht fair ist. Jetzt ist die belarussische Gesellschaft bereit, die Ideen des Feminismus ernster zu nehmen.

ifa: Sie haben die NGO "Our House" 2005 gegründet. Deren YouTube-Kanal ist seit dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs im April 2020 sehr beliebt geworden. Wie erklären Sie sich diese Beliebtheit?

Karatch: Wir produzieren keine Nachrichtenbeiträge, sondern Videos mit Themen und Informationen, nach denen sich die Menschen sehnen, zum Beispiel, wie ein friedlicher Protest aussieht oder wie jemand Verfolgung überlebt. Wir teilen unsere Erfahrungen und wichtige praktische Hinweise. Außerdem waren wir die ersten, die Tabuthemen ansprachen, wie unter Stalin durchgeführte Folter, die Unterdrückung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Massenbeteiligung von Weißrussen im Afghanistankrieg. Eine neue Diskussions- und Interessenskultur hat sich in Belarus entwickelt. Die Menschen wollen Antworten!

"Wir müssen die Gruppen an der Basis unterstützen"

ifa: Wie befähigt "Our House" die Zivilgesellschaft, insbesondere Frauen?

Karatch: Dazu verwenden wir zahlreiche Aufklärungskampagnen. 2012 starteten wir die "Achtung: Miliz!"-Kampagne, um die Belästigung von Frauen durch die Polizei zu beenden. Diese habe ich initiiert, nachdem ich aufgrund meines politischen Aktivismus festgenommen wurde. Ich war körperlicher Gewalt ausgesetzt und mir wurde Vergewaltigung angedroht. Wir reichten eine Klage beim Obersten Gerichtshof ein und der verantwortliche Polizist wurde inhaftiert und verlor seine Stelle. Danach wurden keine Fälle von Belästigung durch die Polizei, zumindest gegen Frauen, für fast sieben Jahre registriert. Aber letztes Jahr sind die Zahlen explodiert. Zwischen Anfang August 2020 und Anfang 2021 wurden etwa 35.000 Menschen festgenommen und gefoltert. Zurzeit sind 49 Frauen als politische Gefangene inhaftiert und mehr als 15.000 Frauen wurden in Verwaltungsverfahren strafrechtlich verfolgt.

Portrait der belarussichen Aktivistin der Opposition Olga Karatch mit erhobener Faust.
Olga Karatch, © Dmitrij Leltschuk

ifa: Was muss getan werden, um die Zivilgesellschaft von Belarus und ihre Forderungen nach Veränderung weiter zu unterstützen?

Karatch: Es ist enorm wichtig, dass die Gruppen an der Basis, die an der Schnittstelle von bürgerschaftlichem Aktivismus, Politik und dem Kampf gegen Fehlinformationen arbeiten, sowie Aktivist:innen wie YouTube-Blogger:innen unterstützt werden. YouTube ist fast der einzige unabhängige Kanal, der nicht vom Regime kontrolliert wird.
In einer solch schwierigen Situation ist es unbedingt erforderlich, dass diejenigen unterstützt werden, die ihren Kampf innerhalb Belarus fortsetzen, die ihr Leben und ihre Freiheit riskieren, um Informationen über das, was tatsächlich in Belarus passiert, an Blogger:innen außerhalb des Landes weiterzuleiten. Intelligente politische Analysen sind ebenfalls dringend erforderlich. Leider sind die meisten Expertenanalysen in Belarus nicht unabhängig.
Wir brauchen politische Bildung und Programme für Aktivist:innen, damit die Belaruss:innen Bildung und Verständnis darüber erlangen, was sie tun müssen, damit Belarus zur Demokratie zurückkehrt.

Interview von Juliane Pfordte

Über Olga Karatch
Porträt der belarussischen Oppositionsaktivistin Olga Karatch.
Olga Karatch
Aktivistin

Olga Karatch ist eine der Gründer:innen der Friedensbewegung "Nash Dom" in Belarus. Sie und ihre Kolleg:innen gründeten "Our House" im Dezember 2005, ein internationales Zentrum für Initiativen aus der Zivilgesellschaft und eine der führenden friedensstiftenden Organisationen in Belarus, die für gewaltloses Handeln steht.

Olga Karatch war externe Expertin bei einem Workshop des CrossCulture Programms des ifa.