Anwerbeabkommen mit der Türkei: Was ist (übrig) geblieben – Kulturelle Teilhabe?

In der Studie kritisiert Nesrin Tanç mangelnde Sichtbarkeit von Kulturschaffen und Erinnerungskultur der Einwanderungsgeneration und fordert Anerkennung und Einbindung in die deutsche Kulturpraxis.

Stuttgart, 21.12.2021 – Vor 60 Jahren schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der Türkei – Startpunkt eines unumkehrbaren Einwanderungsprozesses. Nesrin Tanç beschäftigt sich in ihrer Studie mit dem Titel "Ne kaldı? Ne kalacak? – Was ist geblieben? Was bleibt?" mit den Kulturen der Einwanderungsgeneration und wirft einen Blick auf die Festakte zum Jahrestag des Anwerbeabkommens im Kontext kultur- und identitätspolitischer Fragen und Konzepte. Dabei untersucht sie auch, welche Narrative und Institutionen für die Erinnerungskultur der sogenannten Gastarbeiter:innen aus der Türkei ab den 1960er Jahren bis zur Gegenwart zur Verfügung stehen, und behandelt Fragen zur Zugehörigkeit der Einwanderungsgeneration aus der Türkei und ihrer Nachkommen zur (Erinnerungs-) Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Fazit: Von der offiziellen Erinnerung ist deren Perspektive weitgehend ausgeschlossen.

Nesrin Tanç zeichnet nach, wie Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, sich seit 60 Jahren am Kulturschaffen in Deutschland beteiligen – und trotzdem nicht beteiligt sind. Weil wir nicht hinschauen und zur Teilhabe einladen. Es liegt an allen Kulturakteur:innen – Kulturpolitik, Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden – dieses Missverhältnis zu erkennen und Beiträge dieser Community aktiv in das kulturelle Erleben und Erinnern Deutschlands einzubeziehen. Denn erst dadurch ebnen wir einen Weg heraus aus der beschränkten Perspektive einer Integrationspolitik hin zu einem Ankommen in einer pluralen und gleichberechtigten Gesellschaft
Gitte Zschoch, Generalsekretärin des ifa

Zur nachhaltigen Integration in das kulturelle Gedächtnis fordert Tanç einen Sammlungsaufbau in Museen und Archiven, sowie die Anerkennung und Institutionalisierung der Kultur der Einwande-rungsgesellschaft in der Forschung und Kulturpraxis. Durch vielfältige Bezüge zur Kultur- und Literaturszene zeigt die Autorin der Studie auf, dass seit den 1960er Jahren eine Reihe von Produktionen aus der Community der Zugewanderten heraus entstanden, aber nicht in angemessenem Maß in den Kulturinstitutionen und Literaturarchiven verankert und repräsentiert sind:

Das Zelebrieren der gemeinsamen Werte und des gemeinsamen kulturellen Lebens darf nicht nur alle Jubeljahre stattfinden – es muss verstetigt werden. Außerdem müssen die Erinnerungsgemeinschaft und die lokalen erinnerungskulturellen Player viel stärker in die Programme und Veranstaltungen einbezogen werden. Dazu zählen auch die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich infolge der NSU-Morde und der Anschläge wie zum Beispiel in Solingen und Mölln gebildet haben. Was wir brauchen, sind dezentrale Erinnerungsorte und Diskursräume, die es uns ermöglichen, das kulturelle Leben hier und in der Türkei stetig zu gestalten, zu reflektieren – und zwar außerhalb von Integrations- und Sicherheitsfragen und über Denkmäler hinaus.
Die Autorin der Studie Nesrin Tanç über ihre Arbeit

Nesrin Tanç arbeitet als freiberufliche Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, Beraterin, Autorin und promoviert am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen zum Thema des kulturellen und literarischen Erbes der Immigrantinnen und Immigranten aus der Türkei im Ruhrgebiet. Ihre Forschung konzentriert sich auf das Thema Kultur und Literatur der Einwanderungsgesellschaft.

Herausgeber der Studie ist das ifa – Institut für Auslandsbeziehungen; sie entstand im Rahmen des ifa-Forschungsprogramms "Kultur und Außenpolitik".

Die vollständige Publikation steht hier zum Download zur Verfügung: https://doi.org/10.17901/akbp1.14.2021

Das Forschungsprogramm "Kultur und Außenpolitik" des ifa begleitet die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wissenschaftlich, gibt Impulse für außenkulturpolitische Maßnahmen und vernetzt Akteur:innen zur AKBP-Thematik.

Die Aspekte Integration und Erinnerungskultur der neuen Studie werden auch in zahlreichen weiteren Publikationen des Forschungsprogramms thematisiert, u.a. in "Diversität und Inklusion in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik"  von Kathrin Tietze oder "Was heißt Kuratieren heute – Potenziale für transnationale Kooperationen" von Annette Tietenberg.

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Über das ifa
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