Ukrainische Zivilgesellschaft: Stark, resilient und krisenerprobt.

Podcast mit Susann Worschech

Im Angriffskrieg Russlands zeigt sich die ukrainische Zivilgesellschaft resilient, stark und handlungsfähig. Vor einem Jahr sprachen wir bereits mit der Sozialwissenschaftlerin Susann Worschech über die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft im Krieg und die Tragfähigkeit der internationalen Solidarität.

In dieser Folge "Der Kulturmittler" erfahren wir, wie sich die Gesellschaft unter dem Druck des Krieges entwickelt hat. Anders als die russische Regierung vielleicht erwartet hatte, erklärt Worschech, sei die ukrainische Zivilgesellschaft kein passives Objekt der Politik. Stattdessen sei sie geleitet von einer starken kollektiven Idee des Widerstandes und der Solidarität - auch im Exil. Im Interview blickt sie zudem kritisch auf die zögerliche westeuropäische Haltung und plädiert dafür, die Stimmen der Ost- und Mitteleuropäer:innen stärker in das politische Handeln Europas zu integrieren.

Es ist eine Grafik zu sehen. Ein weißer Kreis in der Mitte, umgeben von einem blauen Streifen über die obere Hälfte und einem gelben über die untere Hälfte. Im Kreis ist eine Illustration einer Frau zu sehen mit kurzem Haar. Unter ihr steht Susann Worschech, über ihr Die Kulturmittler, im rechten Eck der Illustration sieht man das Logo des ifa – Institut für Auslandsbeziehungen in schwarz auf dem gelben Hintergrund. Es handelt sich um das Cover einer des sechs Sonderfolgen zur Ukraine des ifa-Podcasts "die Kulturmittler". Die Sozialwissenschaftlerin Susann Worschech spricht in dieser Folge über die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft im Krieg und die Haltung anderer europäischer Staaten. Illustration von Lea Dohle.
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Transkript der Folge

Folge #46: Ukrainische Zivilgesellschaft: Stark, resilient und krisenerprobt. Mit Susann Worschech

Amira El Ahl: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Die Kulturmittler, dem ifa-Podcast zur Außenkulturpolitik. Mein Name ist Amira El Alh und ich freue mich sehr, dass Sie mit dabei sind. Vor einem Jahr hat Russland mit einer groß angelegten Offensive die Ukraine überfallen und damit den seit 2014 schwelenden Konflikt eskalieren lassen. Wenige Wochen nach dem Beginn der Invasion hatten wir die Sozialwissenschaftlerin Susann Worschech zu Gast im ifa-Podcast. Eigentlich ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), dieses Semester ist sie jedoch Vertretungsprofessorin an der Universität in Gießen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der politischen Soziologie Europas. Dabei hat sie ihren Fokus auf die Zivilgesellschaft in der Ukraine und den sozialen Wandel in Mittel- und Osteuropa gelegt. In der heutigen Folge wollen wir mit ihr auf das vergangene Jahr blicken und fragen, wie sich die Zivilgesellschaft in der Ukraine entwickelt hat, ob es in der Forschung zur Ukraine Fortschritte gab und wie es um das Wissen und Verständnis der Deutschen gegenüber den Ukrainer:innen steht. Damit sage ich herzlich willkommen zurück hier im Podcast Susann Worschech.

Susann Worschech: Ja, guten Tag, hallo!

Amira El Ahl: Wie haben Sie das vergangene Jahr in Bezug auf die Ukraine wahrgenommen, Frau Worschech? Bundeskanzler Scholz sprach von einer Zeitenwende. Befinden wir uns tatsächlich in dieser Zeitenwende?

Susann Worschech: Der Begriff der Zeitenwende ist natürlich ein großes Wort und das war das richtige Wort, das muss man ganz klar sagen. Denn es ist eine Zeitenwende und wir befinden uns darin. Es ist die Rückkehr des großen zwischenstaatlichen Krieges nach Europa seit 1945, es ist die Rückkehr des aggressiven Imperialismus und man kann auch mittlerweile wissenschaftlich gesichert sagen, des faschistischen Krieges in Europa und nach Europa. Und das bedeutet, wir haben eine Zeitenwende. Hier geht es natürlich insbesondere auch um die Frage, was hat die Bundesregierung bisher geleistet? Was kann sie leisten? Was hätte sie leisten müssen? Wie hätte man mit der Ukraine zusammenarbeiten müssen, nicht erst seit dem 24.2., sondern natürlich auch schon vorher? Und wie hätte sich Europa eigentlich auf dieses immer nationalistischer, immer autoritärer bis totalitärer werdende Russland auch schon vorbereiten können in den letzten Jahren? Die Zeitenwende markiert einerseits, dass sich da etwas Großes verändert hat in Russland insbesondere, in Osteuropa, aber auch, dass wir als Europäerinnen und Europäer ganz grundsätzlich anders über unsere Existenz, über dieses Europa nachdenken müssen. Das heißt, die Zeitenwende ist tatsächlich da. Sie kam allerdings mit Ansage und es sind nicht die richtigen Konsequenzen aus dieser Diagnose gezogen worden.

Amira El Ahl: Was wären denn Konsequenzen gewesen, die wir hätten ziehen müssen? Was ist nicht gemacht worden, was man hätte machen können und absehbar war?

Susann Worschech: Es gab einfach eine wahnsinnig zögerliche Haltung, nicht nur in der Frage, wie unterstützt man die Ukraine jetzt richtig – logistisch, militärisch, politisch, auch finanziell –, sondern auch immer wieder eine zögerliche Haltung in Bezug auf das, was dort eigentlich passiert, was Russland eigentlich vorhat. Und die russische Führung wird ja nicht müde, immer wieder deutlich zu machen, dass das Ziel dieses russischen Angriffskrieges nichts geringeres ist als die Auslöschung der Ukraine, die Auslöschung ukrainischer Geschichte, ukrainischer Kultur, kurz gesagt, der ukrainischen Identität um jeden Preis. Auch das sehen wir jetzt wieder. Der Preis, den Russland zahlt, ist auch enorm hoch. Aber in der Zielsetzung der Auslöschung der Ukraine hat sich nichts geändert. Und wenn man es damit zu tun hat, dass man sagen muss, es geht im Grunde um einen geplanten Völkermord, dann ist jede Art der Unterstützung, insbesondere aber auch die militärische Unterstützung, für die angegriffene Gesellschaft ganz zentral und ganz notwendig. Mit Mördern kann man nicht verhandeln, und das galt vom ersten Tag dieses Krieges an. Die Sichtweise darauf, wie man der Ukraine rasch helfen muss, sich zu verteidigen und diesen unglaublichen Angriffskrieg zurückzudrängen, die war immer noch sehr von Zögerlichkeit und Vorsicht geprägt. Ich glaube, dass das nicht die richtige Antwort auf diesen unglaublich aggressiven russischen Imperialismus ist.

Amira El Ahl: Sie hatten letztes Jahr hier im Podcast gesagt, dass die Ukraine eine der stärksten Zivilgesellschaften in Ost- und Mitteleuropa hat, und das sei auch schon zu Sovietzeiten so gewesen und tief in der Ukraine verwurzelt. Welche Auswirkungen hatte denn der Krieg nun auf die Zivilgesellschaft in der Ukraine bisher? Ist sie stärker geworden oder bröckelt in solchen Zeiten, wo es ja, wie Sie gerade sagen, darum geht, ein Volk auszulöschen, ein ganzes Land auszulöschen? Wird sie da stärker oder bröckelt sie eher?

Susann Worschech: Zunächst muss man sagen, es ist gut, dass die Zivilgesellschaft und auch Kunst und Kultur in der Ukraine schon so wahnsinnig stark und resilient und auch krisenerprobt waren. Das ist ja genau das, womit die russische Führung auch überhaupt nicht gerechnet hat, was auch jenseits ihres Vorstellungshorizontes ist: Die Idee, dass es wirklich eine selbstbewusste Gesellschaft gibt, die sich selbst als handelndes Subjekt wahrnimmt und nicht nur als passives Objekt der Politik sozusagen – das ist etwas, was in der russischen Welt gar nicht existiert, oder wenn dann nur als Bedrohung. Und die ukrainische Zivilgesellschaft hat weiterhin eine unglaubliche Stärke und Resilienz bewiesen. Resilienz insbesondere in dem Sinne, dass sie sehr anpassungsfähig und wandlungsfähig ist. Das heißt, es geht natürlich ganz zentral um das Überleben, und das wirklich im physischen Sinne. Man muss zunächst mal irgendwie diese Angriffe, diesen Krieg, diesen Bombenterror überstehen und überleben. Zugleich aber auch das aufrechterhalten, was eine ukrainische Gesellschaft und auch Zivilgesellschaft ausgemacht hat. Also dieses Widerständige, das Kritische, das Progressive. Ganz klar auch das Einstehen für demokratische Werte, für eine demokratische Kultur, für eine gesellschaftliche Reflexion, für ein Nachdenken darüber, was läuft alles schief, wo wollen wir hin, wo sehen wir uns als Ukrainer, als Europäer? Und das ist etwas, was die ukrainische Zivilgesellschaft sich durchaus bewahrt hat, wenngleich sich natürlich der Fokus an vielen Stellen geändert hat. Ganz konkret ist es so, dass ein großer Teil der Leute aus den NGOs, aber auch aus Kunst und Kultur, zunächst einmal geflüchtet ist. Das sind Leute, die hatten ihre Koffer schon längst in der Wohnung stehen, schon deutlich vor dem 24.02. und sind dann auch einfach erst mal vor diesen Bomben, vor den Angriffen geflohen. Das heißt aber nicht, dass sie jetzt irgendwo in Europa sitzen und warten. Wir sehen das hier in Deutschland, in Berlin auch gerade ganz stark, auch in den anderen Städten, in Polen natürlich: es gibt eine sehr aktive ukrainische Diaspora, die weiter in Sachen Kunst und Kultur, gerade auch Kultur der Ukraine, sehr aktiv ist und versucht, das Bild der Ukraine hier immer wieder zu vermitteln und in Gespräche zu kommen. Und das andere sind Menschen, die in der Ukraine geblieben sind und die ihre Aktivitäten intensiviert haben, teilweise aber auch geändert haben. Ich kenne zum Beispiel Leute aus Literaturorganisationen, die ihre Expertise, ihre Logistik dafür bereitgestellt haben, dass man humanitäre Hilfe durch das Land transportiert oder dass sich Leute untereinander organisiert haben. Und diese Widerstandsfähigkeit bei gleichzeitiger Anpassung an das, was jetzt notwendig ist, das ist auch wiederum ein Charakteristikum der ukrainischen Zivilgesellschaft, die sich gegen diese massiven, wirklich auch physischen, existenziellen Angriffe nach wie vor wehrt.

Amira El Ahl: Sie haben es gerade schon gesagt, es sind ja auch viele Künstlerinnen und Künstler zurückgekommen, die zunächst geflohen sind. Der Autor und Philosoph Volodymyr Yermolenko sagte hier im Podcast im Gespräch, dass Kiew und Charkiw voller Leben seien, genau wie die Kulturszene. Aber wie Sie schon sagten, Putin wollte mit der Invasion auch die ukrainische Kultur, die Geschichte, die Identität ausrotten. Sich dem als Künstler:in entgegenzustellen, das ist ja schon an sich ein Akt des Widerstands. Wie erfolgreich sind die Ukrainer:innen darin, diesen Widerstand zu leisten, und wie lange halten sie das noch durch? Das ist auch eine Frage, die sich stellt. Viele sind in den Krieg gegangen, an die Front gegangen und das ist ja auch eine psychische Belastung.

Susann Worschech: Ja, es ist eine psychische und auch eine physische Belastung. Es ist natürlich auch eine Tatsache, dass gerade auch Menschen, die in den Organisationen, in NGOs oder in der Kulturszene aktiv waren, auch durchaus schon gefallen sind in diesem Krieg, die sind weg. Und das sind Köpfe, progressive Köpfe, die sich vieles auch ausgedacht haben für die Zukunft der Ukraine, die natürlich massiv fehlen. In meiner Wahrnehmung – und ich muss dazu sagen, ich kann momentan nicht in die Ukraine reisen, das ist für Forschende momentan nicht möglich –, aus Gesprächen und natürlich aus dem, dass ich die Zeitung lese etcetera, habe ich den Eindruck, das Land ist nach wie vor sehr stark am Zusammenhalt orientiert. Es ist sehr daran orientiert, dass man diesen Widerstand weiter leisten wird, dass man ihn will. Das ist unglaublich, wie hoch dieser Widerstandsgeist seit mittlerweile einem Jahr ist. Und in meiner Wahrnehmung ist das auch nicht gebrochen. Aber es ist natürlich immer wieder auch gefährdet, denn Leute müssen irgendwie überleben. Die Frage ist, wovon lebt man? Wie kommt man durch den nächsten Monat? Wie geht es momentan ohne Heizung, teilweise ohne Strom? Was ich in meiner direkten Zusammenarbeit auch mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erlebt habe, ist, dass man beispielsweise an den Unis natürlich weiterarbeitet, teilweise engagierter als je zuvor. Ich hatte jetzt beispielsweise ein wunderbares Seminar mit ukrainischen Studierenden, und wir haben jedes Mal zu Beginn der Seminarsitzung gefragt, wie geht es euch, wie war die Nacht? Habt ihr Strom? Naja, offensichtlich, wenn sich die Leute eingeschaltet haben in die Zoom-Sitzung, hatten sie Strom. Aber wir hörten jedes Mal: "Nein, es ist ein ruhiger Morgen. Es gibt gerade keine Anschläge, es gibt keine Bomben, keine Drohnenangriffe. Wir machen jetzt mal das Seminar." Und dann haben wir uns anderthalb Stunden über Texte unterhalten. Das heißt, es ist ein Wille da, den Alltag fortzusetzen, die Arbeit fortzusetzen, auch Kunst und Kultur fortzusetzen, der mich immer wieder aufs Neue beeindruckt und der auch unbedingt weiter gefördert werden muss. Die Menschen haben einen unglaublichen Überlebenswillen, individuell und auch als Gesellschaft, und das ist etwas, was wir uns aus der hiesigen Perspektive kaum vorstellen können. Umso wichtiger ist es, dass diese Alltagssorgen abgenommen werden können. Die Frage, woher kommt mein Einkommen, wie geht es weiter? Haben wir genug Strom? Das heißt, dass man auch an dieser Stelle die Ukraine ganz intensiv unterstützt. Dass einfach erstmal auch Gehälter und Löhne gezahlt werden können, dass Generatoren bereit stehen, um die Energieversorgung nicht zu stark zu beeinträchtigen und zu unterbrechen. Und das sind alles Dinge, die momentan sehr wichtig sind und die helfen können, diese Resilienz, die unbedingt notwendig ist, in diesem existenziellen Angriffskrieg, auch weiter aufrechtzuerhalten.

Amira El Ahl: Also, das heißt, es geht auch erst mal um ganz praktische Förderung, ganz praktische Hilfe, die das wichtigste ist im Moment.

Susann Worschech: Praktische Hilfe in sehr vielerlei Hinsicht. Natürlich geht es darum, gerade den Menschen, die ohnehin in prekären, aber sehr wichtigen Bereichen gearbeitet haben – Kunst und Kultur ist traditionell ein prekärer Bereich, weil es nicht sehr kontinuierliche Gehälter gibt beispielsweise –, dass man da weiterhilft und gerade den Leuten, die auch für diese Aufrechterhaltung der Motivation, für die Aufrechterhaltung dieser Resilienz auch ganz wichtige Beiträge leisten, direkt unterstützt. Es geht um alltagspraktische Hilfe. Aber gesamtgesellschaftlich gesehen muss die Ukraine in diesem Angriffskrieg auch politisch, militärisch und gesamtfinanziell soweit gestärkt und unterstützt werden, dass sie diesen Krieg gewinnen kann. Und dass Russland mit seinem imperialistischen Vorstellungen davon, die ukrainische Kultur auszulöschen, die Menschen zu unterwerfen, das Land vollständig zu besetzen, dass diese Ideen nicht erfolgreich sein können.

Amira El Ahl: Warum wird eigentlich die Rolle der Zivilgesellschaft im Krieg so oft unterschätzt, wie Sie in einem Aufsatz mit Blick auf den anhaltenden Widerstand der Ukrainer:innen geschrieben haben?

Susann Worschech: Das ist eine gute Frage. Vielleicht, weil wir auch zu wenig Forschung dazu haben, welchen Beitrag eine Zivilgesellschaft leisten kann. Sicherlich aber auch, weil die Ukraine gerade zeigt, dass es ein sehr besonderer Beitrag ist, den die Zivilgesellschaft dort leistet, und dass es vielleicht nicht so selbstverständlich ist. Was dort passiert, ist, dass sich wahnsinnige Netzwerke gebildet haben, beispielsweise von Menschen, die sich nachbarschaftlich unterstützen, die soziale Unterstützung leisten für andere, die sie bisher überhaupt nicht kannten. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist das allerdings nicht vollständig neu. Diese Idee, dass man gemeinsam Großes als Gesellschaft schaffen kann, die sehen wir auch schon symbolisch und praktisch in den drei großen Revolutionen der Ukraine: dem sogenannten Euromaidan, also der Revolution der Würde 2013/14, in der Orangen Revolution von November 2004. Auch in der Granit Revolution 1990, als die Ukrainerinnen und Ukrainer auf ihren Plätzen in den großen Städten, vor allem in Kiew, Zeltstädte gebaut haben. Es gab dabei nicht nur Protestierende, die lange durchgehalten haben, sondern auch Menschen, die einfach dazukamen und beispielsweise essen gekocht haben für die Protestierenden. Sie sind selbst nicht unbedingt mit Plakaten rumgelaufen, aber haben gesagt: "Wenn hier gerade eine große Revolution stattfindet, dann muss auch jemand dafür sorgen, dass die Leute sich auch mal ausruhen können, dass sie nicht nach Hause müssen, sondern hier bleiben können." Und diese Solidarität – Ich gehe jetzt dorthin, ich engagiere mich, ich koche eine warme Suppe oder einen Tee für Menschen, die ich sonst gar nicht kenne – das ist sehr präsent als Aktionsform in der ukrainischen Gesellschaft, und das hält auch im Krieg auf eine besondere Art und Weise an. Zugleich sehen wir ein Bewusstsein dessen, dass diese Gesellschaft sich auch unbedingt als zivil, also als gesellschaftlich engagiert, begreifen möchte. Man möchte beispielsweise weiterhin in Konzerte gehen, es gibt Kulturveranstaltungen, Leute sitzen in Cafés. Sie versuchen demonstrativ, ihr normales ziviles Leben weiterzuführen, auch mit dem Argument: "Wir wollen uns von Russland nicht unsere Würde und auch nicht unser Leben und unseren Lebensstil nehmen lassen." Und da spielt vieles eine wichtige Rolle. Auch die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft ist ein ganz wichtiger Motivator, dafür auch nochmal genauso weiterzukämpfen und das auch durchzuhalten. Ansonsten muss man sagen, die Rolle von Zivilgesellschaften im Krieg wird auch unterschätzt, weil es selten eine so starke kollektive Idee des Widerstands gibt und weil wir es hier natürlich mit einem Angriffskrieg zu tun haben, den wir ja eigentlich aus einer europäischen Perspektive schon fast gar nicht mehr gewöhnt sind. Mit einem ganz eindeutigen Aggressor und einem ganz eindeutig angegriffenen Land. Und diese Idee – sich zusammenzuschließen, die eigene Identität, die kollektive Identität zu bewahren und das über ganz unterschiedliche zivilgesellschaftliche Engagements, über Kultur etcetera auch aufrechtzuerhalten – das ist etwas, wozu wir noch viel forschen müssen und wo man sicherlich aber auch sehr viel lernen kann. Davon, wie Krisen, wie existenzielle Bedrohungen durch Zivilgesellschaft abgefedert und dem etwas entgegengesetzt werden kann.

Amira El Ahl: Apropo Forschung, auch wenn das nicht Ihr Forschungsschwerpunkt ist: Welche Entwicklungen beobachten Sie in anderen europäischen Ländern, die direkt an Russland oder die Ukraine angrenzen, also zum Beispiel im Baltikum, Moldawien, Ungarn, Slowakei, Polen, Rumänien? Ist da die Unterstützung für die Ukraine gewachsen? Wie ist die Haltung der dortigen Zivilgesellschaften gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine, aber auch gegenüber Europa und Russland?

Susann Worschech: Ich kenne vor allem Zahlen aus dem Baltikum und aus Polen, teilweise auch aus Ungarn. Da sehen wir sehr unterschiedliche Trends. Gerade die baltischen Staaten und Polen verzeichnen sehr hohe Zustimmungswerte nach wie vor, beispielsweise zu Waffenlieferungen an die Ukraine, zu allgemeiner Unterstützung, auch zur Flüchtlingsaufnahme. Das war bei Polen anfangs für manche Leute überraschend, weil sich Polen noch während der Flüchtlingskrise 2015/16 auch gesellschaftlich anders positioniert hat. Bei der aktuellen Frage, nimmt man ukrainische Geflüchtete auf oder nicht, gibt es eine große Mehrheit, die sich dafür ausspricht, die sich da auch aktiv engagiert. Wir sehen hier eine Zivilgesellschaft, auch in den baltischen Staaten, die nach wie vor, ich möchte fast sagen, bedingungslos die Ukraine unterstützt. Und das ist gerade auch nochmal vor dem historischen Kontext zwischen Polen und der Ukraine, der ja auch alles andere als konfliktfrei war, eigentlich sehr beeindruckend, weil es doch zeigt, dass die gemeinsame europäische Idee und auch natürlich die gemeinsame Angst vor der russischen Aggression jedoch auch eine große Solidarität geschaffen hat. Wir sehen in Ungarn, das ganz klar autoritär regiert ist und sich auch immer weiter von europäischen Werten und europäischer Zusammenarbeit entfernt, entgegengesetzte Werte, was die Zustimmung zu Waffenlieferungen beispielsweise, aber auch die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine allgemein angeht. Ungarn ist damit allerdings ein Ausreißer in der EU. Mir macht generell Sorge, dass wir auch gerade in Polen und im Baltikum bemerken, dass es nach wie vor eine große Enttäuschung gibt über die deutsche und auch westeuropäische Perspektive. Über das politische Handeln der Bundesregierung, das nach wie vor als zu zögerlich, zu abwartend, zu russlandfreundlich oder zumindest zu skeptisch gegenüber dieser bedingungslosen Solidarität wahrgenommen wird. Polen und auch die baltischen Staaten haben lange schon vor der russischen Aggression gewarnt, haben davor gewarnt, dass es gefährlich ist, Putin zu sehr zu vertrauen, und sind dabei immer wieder nicht gehört worden, sind dabei als hysterisch bezeichnet worden. Mittlerweile, nach gut einem Jahr direktem Krieg, großer Invasion in der Ukraine, hört man Stimmen, die sagen, was muss denn noch passieren, damit ihr endlich versteht, wie aggressiv, wie antieuropäisch dieses russische Regime eingestellt ist? Was muss noch passieren, damit ihr versteht, dass Putin bei der Ukraine nicht stehenbleiben wird, wenn wir ihn nicht rechtzeitig stoppen, wenn wir ihm nicht endlich klar machen, dass das alles überhaupt nicht geht? Dass man auf die Art und Weise überhaupt nicht mehr in Europa agieren kann und ihnen auch aus der Ukraine zurückdrängen muss. Das heißt, diese Frustration, auch über die schwierige europäische Zusammenarbeit, die macht mir Sorgen, und die wird sowohl auf der Regierungsebene als auch in den Zivilgesellschaften in Polen und in den baltischen Staaten geäußert. Ich glaube, wenn wir in Europa gut weiter zusammenarbeiten wollen, dann sind wir gut beraten, die Stimmen der Ost- und Mitteleuropäerinnen und Mitteleuropäer viel stärker zu gewichten und viel stärker deren Wahrnehmungen, auch Ängste, aber eben auch berechtigte Sorgen in politisches Handeln zu überführen.

Amira El Ahl: Wo Sie gerade von den Zivilgesellschaften sprechen: Sie hatten gesagt, dass die Kulturszene und Zivilgesellschaft in der Ukraine sehr engagiert und entschlossen ist, aber eben auch in den baltischen Ländern, von denen Sie gerade sprachen. Zeigt sich diese Haltung auch unter den emigrierten Ukrainer:innen? Also in diesen Ländern zum Beispiel, aber auch in Deutschland, gibt es da eine Veränderung zu beobachten in so einem neuen Umfeld? Trägt das auch dazu bei, dass diese Zivilgesellschaften und auch diese Ängste und Sorgen, die diese Länder haben, mehr gesehen werden?

Susann Worschech: Ja, es gibt ganz klar ein großes Engagement der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Bereichen, in denen sie zuvor aktiv waren, auch im Ausland. Insbesondere Leute aus der Zivilgesellschaft, aber auch Kunst- und Kulturszene haben wahnsinnig viel auf die Beine gestellt, um deutlich zu machen: was ist denn überhaupt ukrainische Identität? Was ist ukrainische Kultur, was sind zentrale Musiker? Es ging um Literatur, literarische Werke, Kunstwerke, die man kennen sollte, die man auch in Europa überhaupt erstmal bekannt machen möchte. Was von der ukrainischen Diaspora in vielen europäischen Ländern in den letzten zwölf Monaten auf die Beine gestellt worden ist, das ist wirklich beeindruckend. Was ebenso beeindruckend ist, ist, dass die Diaspora das auch gar nicht alleine macht, sondern häufig auch mit lokalen Akteuren vor Ort, häufig aber auch, beispielsweise hier in Berlin, zusammen mit der polnischen Community. Das heißt, auch hier sieht man wiederum diese Vernetzung und auch die Idee: "Wir als Osteuropäer müssen uns auch einfach präsentieren. Wir müssen zeigen, wer wir sind, wir müssen weiter um Verständnis werben. Und wir müssen natürlich auch ganz klar nicht nur um Verständnis werben, sondern für klare politische Konsequenzen auch einstehen." Der zweite Punkt, der hier auch noch unterstützend ist, ist der, dass viele Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine auch intensiver als zuvor im Ausland, im europäischen Ausland und auch in Amerika, unterwegs sind, Konzerte geben, Lesungen halten, auf Podiumsdiskussionen sitzen aus ihrem Land berichten. Das heißt, die Ukraine hat hat in diesen zwölf Monaten Kulturbotschafter hinzugewonnen, die in einem unglaublichen Ausmaß unterwegs sind. Das sind Leute wie Serhij Schadan, der sher aktiv ist und in Charkiw humanitäre Hilfe leistet, Konzerte gibt, mit seiner Band Lesungen hält, auch in den sozialen Medien Dinge postet und schreibt. Er ist, wenn es möglich ist, beispielsweise in Deutschland unterwegs und gibt hier Lesungen und hält Konzerte. Um deutlich zu machen, schaut auf uns, helft uns, schaut auf die Ukraine und lasst die Ukraine auch endlich offiziell Teil dieser europäischen Familie sein, der europäischen Solidarität und damit aber auch der europäischen Union. Und gleiches passiert natürlich auch in Polen und in den baltischen Staaten. Das heißt, diese Kulturbotschafter, Kulturmittler aus der Ukraine, sowohl die Ukrainer, die dort geblieben sind, als auch die Diaspora, sind sehr aktiv darin, deutlich zu machen, was alles bedroht ist durch diesen Angriffskrieg. Also nicht nur das reine Leben, nicht nur die reine physische Existenz, sondern eben auch eine ganz reiche, sehr eigene Kultur. Als Beispiel kann man solche Dinge wie die Ernennung des Gerichtes Borschtsch zum UNESCO Weltkulturerbe sehen, zum immateriellen Kulturerbe. Das sind natürlich alles kleine Schritte, die manchmal auch irgendwie ein bisschen amüsant sein können. Aber es zeigt ganz deutlich, da möchte eine Nation klar machen, hier sind wir, das ist unser kulturelles Erbe, das ist unsere Geschichte, das ist unsere Identität, nehmt uns wahr und helft uns, dass wir diese kulturelle Identität auch bewahren können.

Amira El Ahl: Wo Sie gerade von Hilfe sprechen: Kulturförderung ist ja eine Form von Hilfe. Vor einem Jahr hatten Sie hier im Podcast gesagt, dass es nach dem Euromaidan zwei Arten von externer Kulturförderung gab. Zum einen für große, anerkannte Organisationen, die haben dann meist Geld als Zuwendung bekommen und konnten dann zum Beispiel Workshops finanzieren. Zum anderen kleinere Förderungen von politischen Stiftungen oder Kulturförderung von Institutionen, die die Akteure vor Ort und die Zivilgesellschaft gut kennen und vor Ort sehr präsent sind und kleine Projekte fördern. Inwiefern sind derzeit solche externen Förderungen für Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft möglich oder überhaupt sinnvoll?

Susann Worschech: Sinnvoll sind sie auf jeden Fall, und sie bestehen fort. Einfach weil es schon sehr gute Netzwerke gab, beispielsweise die Literaturorganisation MERIDIAN Czernowitz, die ihre Logistik auch für humanitäre Hilfe bereitgestellt haben. Die erhalten von sehr vielen europäischen und auch amerikanischen Akteuren Unterstützung und haben die auch weiterhin gebraucht, um beispielsweise Lesereisen zu organisieren für die Schriftsteller, die bei ihnen im gleichnamigen Buchverlag publizieren. Es gibt eigentlich jedes Jahr ein Literaturfestival, was im Jahr 2022 stattfand. Es hieß nicht Festival, aber es hieß Czernowitz-Lesungen, um auch deutlich zu machen, das findet weiterhin statt, und wir brauchen auch Kultur, um uns weiterhin darüber zu verständigen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Diese Art der Zusammenarbeit, diese Art der Förderung findet weiterhin statt. Das ist jetzt häufiger eine Förderung, die sich eher institutionell organisiert. Das heißt, man gibt einfach den Organisationen, mit denen man auch schon lange zusammenarbeitet, Geld. Nicht nur für Projekte, sondern es wird einigermaßen pauschal ausgezahlt, sodass die Organisationen das damit machen können, was sie gerade brauchen, und vor allem auch, was sie umsetzen können in der aktuellen Situation. Diese Unterstützung ist weiterhin total wichtig. Es gibt vom Goethe-Institut das Projekt "Goethe im Exil", was eigentlich gar nicht für die Ukraine gedacht war.

Amira El Ahl: Das war eigentlich für Syrien, oder? Das ist für Syrien etabliert worden.

Susann Worschech: Genau, im Syrienkontext ist das gegründet worden für Situationen, in denen man Kulturschaffende fördern will, aber das Land in einer autoritären Diktatur steckt, sodass man gar nicht wirklich die Leute und die Aktionen vor Ort fördern kann. Das ist jetzt auch für die Ukraine angewandt worden, und das bedeutet eben auch wiederum, dass man ukrainische Schriftsteller, ukrainische Künstlerinnen und Künstler nach Deutschland einlädt, sodass sie hier ihre Projekte weitermachen können. Dass es hier öffentliche Veranstaltung geben kann, dass sie hier eine Zeit lang arbeiten können, und diese Unterstützung ist ganz zentral. Was aber auch genauso wichtig ist, und das hat zugenommen, ist, dass sich Verbände aus Deutschland oder auch aus Europa zusammenschließen und die Digitalisierung von Archiven, von Museen mit unterstützen, dass auch ganz einfach auf großangelegter Spendenbasis solche Projekte mit unterstützt und gefördert werden. Und wenn man sich solche Situationen wie in Cherson anschaut, wo das Kunst- und Kulturmuseum bis auf das letzte kleine Stück geplündert worden ist von der russischen Armee, von den Russen kurz vor dem Abzug und auch wirklich systematisch geplündert worden ist, dann ist es umso wichtiger, diese Kulturschätze in der Ukraine auch gut zu dokumentieren und solche Projekte jetzt auch zu unterstützen. Da ist vieles auch entstanden. Es ist eigentlich auch wirklich gut, dass es gesehen wird, welche Möglichkeiten Kunst- und Kulturvereine, Dachverbände auch hier in Deutschland haben, um Spenden zu sammeln und um solche Projekte, eben Digitalisierung, Archivierung, Schutz von Kulturgütern mit zu unterstützen. Man muss natürlich die Leute nach wie vor auch mit Stipendien unterstützen, sodass sie sich physisch über Wasser halten können. Das sind alles ganz wichtige Förderformate. Da wächst momentan viel, auch weil es kleine Kooperationen zwischen Organisationen, zwischen Orchestern, zwischen Theatern schon gab und ich auch wahrnehme, dass es hier eine Zivilgesellschaft gibt, die sich auch immer wieder fragt, was können wir noch tun? Wir tun noch nicht genug. Was geht noch? Und diese Eins-zu-eins-Unterstützung – das Orchester in einer Stadt in Deutschland sammelt für das Orchester in der Partnerstadt – das finde ich sehr beeindruckend, und das ist neben der großen staatlichen Hilfe ganz genauso wichtig.

Amira El Ahl: Sie haben da jetzt schon zwei Beispiele genannt. Vor einem Jahr hier im Podcast hatten Sie plädiert dafür, weg von Projektarbeit zu kommen und in längerfristige Engagements zu gehen. Da ist ja jetzt wahrscheinlich das Projekt "Goethe im Exil" als ein Beispiel so etwas, was längerfristig arbeitet. Was erwarten Sie ganz konkret von der deutschen auswärtigen Kulturpolitik heute?

Susann Worschech: Es gibt auf jeden Fall einen großen Hilfsfond, der aufgelegt worden ist von der Staatsministerin. Das ist schon mal wichtig. Das trägt auch genau noch mal zu diesen Archivierungsaktivitäten bei. Aber es ist klar, dass wir jetzt keine kleinen Projekte fördern können, weil die ukrainischen Künstlerinnen und Künstler, die Kulturakteure ja auch ein sehr unsicheres Umfeld haben, selbst wenn sie irgendwo in der Westukraine auftreten. Wenn man dort Theateraufführungen oder ähnliches macht, weiß man nie, wie lange hält der Strom, gibt es vielleicht doch wieder Bombenalarm, muss man doch in den Keller gehen? Das heißt, es gibt einfach riesige Unwägbarkeiten dessen, wie Kultur stattfinden kann, wo Kultur stattfinden kann. Und ich glaube, es wäre auch jetzt nochmal ganz klar Zeichen der Solidarität, dass man immer wieder fragt, was braucht ihr, wofür braucht ihr die Dinge, was konkret ist notwendig? Dass dann aber auch eine Kulturzusammenarbeit stattfindet, die in einem gewissen Vertrauen eine institutionelle Förderung ermöglicht. Sodass man sagt, uns ist erst mal daran gelegen, dieses Theater aufrechtzuerhalten. Unabhängig davon, was da jetzt gerade gespielt wird oder was kleinere Seitenprojekte sind, sondern es gibt jetzt erst mal nur eine Unterstützung dafür, dass man die Dinge weitermachen kann, dass Gehälter und Miete gezahlt werden können. All jene Akteure, die sehr progressiv und auch in der aktuellen Situation politisch kritische Kultur machen – hier natürlich auch gerade Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Journalist:innen – müssen eine Möglichkeit haben, weiterhin auch Stipendien zu bekommen und weiterzuarbeiten. Und was sehr faszinierend ist, was wir auch sehen müssen, ist, dass dieses Land im Krieg nach wie vor ein funktionierendes Parlament hat. Ein Parlament, in dem diskutiert und gestritten wird. In dem Gesetze kontrovers besprochen werden und dann auch beschlossen werden. Dass es nach wie vor eine sehr kritische Medienlandschaft gibt, die die Dinge sehr genau prüft, und dass es also sehr viele Menschen gibt, die auch in den Organisationen, in Antikorruptions-NGOs beispielsweise, weiterhin ihre Arbeit leisten. Dass es da kein Schweigen oder keine Vorsicht gibt, auch keine Zögerlichkeit im Umgang mit der Politik im Krieg, sondern eine sehr lebhafte, kritische Debattenkultur. Diese Akteure weiterhin zu unterstützen, ausfindig zu machen, das finde ich ganz wichtig.

Amira El Ahl: Sie hatten vor einem Jahr bemängelt, dass unsere Gesellschaft unheimlich wenig über die Ukraine weiß. Ist das Wissen und das Verständnis der Deutschen über die Ukraine gewachsen im vergangenen Jahr, und welchen Einfluss hat der Austausch mit emigrierten Ukrainer:innen in dem Zusammenhang?

Susann Worschech: Das Verständnis und vor allem das Wissen sind leider nur minimal gewachsen. Wir sehen zumindest in der akademischen Landschaft keine großen Veränderungen. Was positiv ist, ist, dass einerseits die Ukraine als Land natürlich endlich in der gedanklichen Landkarte der Menschen angekommen ist. Häufig aber mit sehr falschen Eindrücken, auch mit problematischen Eindrücken. Vieles mischt sich mit einem Nichtwissen oder mit Vorurteilen. Wir sehen zu wenig wissenschaftliche Expertise nach wie vor zur Ukraine. Das heißt, es gibt keinen Aufbau in Form von Promotionsprogrammen zur Ukraine. Es gibt keinen Aufbau von Lehrstühlen. Bis jetzt gibt es nach wie vor genau eine Professur in Deutschland, die sich mit ukrainischer Geschichte befasst, und daran hat sich in den zwölf Monaten nichts geändert. Es gibt keine sozialwissenschaftlichen Ukrainestudien als Professur als institutionalisierte Struktur, keine politikwissenschaftlichen etcetera. Das heißt, die Hochschulen sind da leider sehr zögerlich, wie ich finde. Es gibt keine Möglichkeit, Ukrainestudien irgendwo zu studieren als direkten Studiengang. Insofern sehe ich erst mal die akademische Wissensproduktion, die ja eine Grundlage sein muss dafür, dass wir uns beispielsweise heute unterhalten können und dass das auch noch in breiterem Rahmen stattfinden kann, als überhaupt nicht angewachsen. Es gibt ein größeres Interesse, das merke ich auch an den Studierenden, und es gibt viele Hochschulen, die kleinere Projekte versuchen. Die versuchen, gemeinsame Kooperationen aufzusetzen mit ukrainischen Hochschulen, die natürlich auch versuchen, Ukraineschwerpunkte in ihre Studiengänge zu integrieren. Aber es ist nicht so, dass wir sagen können: "Da ist jetzt wirklich schon was entstanden, und in zwei, drei, vier Jahren liegt ein großer Schwung von Doktorarbeiten zur Ukraine vor. Es gibt Leute, die sich auf Professoren vorbereiten können, die vielleicht in Forschungsinstituten zur Ukraine intensiver arbeiten können." Da sind wir absolut nach wie vor hinterher, und das halte ich für gefährlich. Denn wenn es keine akademische Forschung gibt, dann überlässt man dieses Wissensfeld auch einem breiten gesellschaftlichen Diskurs, wo immer wieder Propaganda mit reinspielen kann. Wo sehr stark Fakten und freie Meinungen reinspielen können. Und an der Stelle müssten wir eigentlich sagen können, dass es ein paar Standardwerke und fünf bis zehn Leute gibt, die man ansprechen kann, die sich wirklich auch sehr gut mit dem Land auskennen und die beispielsweise eine Professur zu Ukrainestudien aus verschiedenen disziplinären Perspektiven haben. Es wäre gut, wenn es so etwas gäbe wie ein Ukraine-Zentrum, an dem Forschung gebündelt wird. All das findet gar nicht statt. Ich hoffe sehr, dass wir da noch merken, dass es eine große Wissenslücke ist und dass das unbedingt gefüllt werden muss. Ich bin da aber momentan bei der Trägheit des akademischen Systems etwas skeptisch. Zugleich kann man noch sehen, dass die ukrainische Diaspora natürlich stark gewachsen ist, dass viele Leute sowohl aus den Hochschulen, aus dem akademischen System, aber eben auch aus der demokratischen Zivilgesellschaft nach Deutschland gekommen sind und dass sie unfassbar viele Aktionen machen. Nicht nur Demonstrationen, sondern auch Podiumsdiskussionen, Kunst- und Kulturaktionen, um die Kultur der Ukraine vorzustellen, aber auch um große Wissenslücken, die bei uns bestehen, zu schließen. Diese Aktionen und Aktivitäten sind wichtig, die laufen auch sehr gut, und es gibt einen guten Austausch zwischen den wenigen akademischen Ukraineexpertinnen und -experten, die wir hier in Deutschland haben, mit dieser engagierten Diasporazivilgesellschaft. Ich glaube allerdings, was auch hier gerade versäumt wird, ist, die ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wirklich gut in die akademischen Strukturen einzubinden, sodass auch sie nachhaltig dazu beitragen können, hier akademisches Wissen aufzubauen und das auch wieder rauszugeben an die Gesellschaft. Es haben sehr viele Wissenschaftlerinnen aus der Ukraine an deutschen Hochschulen erst mal eine Möglichkeit gefunden, weiterzuarbeiten, ein Stipendium gefunden. Auch meine eigene Hochschule oder beide Hochschulen, sowohl Gießen als auch die Viadrina, haben Gastwissenschaftler:innen aufgenommen. Das ist wichtig und gut. Aber auch hier hangeln wir uns jetzt eigentlich von Halbjahresförderung zu Halbjahresförderung. Die Frage ist, wie können wir diese Netzwerke nutzen, um an unseren Hochschulen eine gute, nachhaltige Wissensstruktur und damit auch eine Transferstruktur zu etablieren und eine Art Wissensdrehscheibe zu Osteuropa aufzubauen? Auch hier werden gerade große Chancen vertan, was sehr schade ist, denn wir haben durch diesen furchtbaren Krieg ganz fantastische Leute hier im Land. Es wird nicht gesehen und genutzt, was es eigentlich an Kooperationsmöglichkeiten gibt.

Amira El Ahl: Das sagt die Sozialwissenschaftlerin Susan Worschech. Vielen Dank für das Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben, Frau Worschech.

Susann Worschech: Sehr gerne.

Amira El Ahl: Damit sind wir am Ende dieser Folge von Die Kulturmittler. Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, dann empfehlen Sie den Podcast gerne weiter. In der nächsten Folge spreche ich mit dem Psychologen und Autor Christian Stöcker über Social Media und den Krieg in der Ukraine. Damit Sie die kommenden Folgen nicht verpassen, können Sie den Podcast abonnieren. Das geht überall dort, wo es gute Podcasts gibt, zum Beispiel bei Amazon Music, Apple Podcast oder Spotify. Sollten Sie Fragen oder Hinweise zu den Kulturmittlern haben, dann schreiben Sie uns gerne eine Email an podcast@ifa.de. Mehr Informationen zum Institut für Auslandsbeziehungen, Kulturpolitik und alle bisherigen Folgen von Die Kulturmittler finden Sie auf www.ifa.de. Und damit verabschiede ich mich. Mein Name ist mal Amira El Alh. Danke fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal!

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