Ibrahim Issa, Bethlehem, Palestinian Territories 2020 ©Mareike Lauken

Der Zukunftsbauer

Ibrahim Issa leitet eine außergewöhnliche Schule, in der er palästinensische Schülerinnen und Schüler für den Frieden der Zukunft vorbereitet. Eigentlich war anderes für ihn vorgesehen, aber es stellte sich heraus, dass es genau ihn dort braucht.

 

"Ich mache diese Arbeit auch für die Zukunft", sagt Ibrahim Issa. Der Schuldirektor der Hope Flowers School in Al Khader, nur wenige Kilometer von Bethlehem entfernt, steht im Eingang seiner Schule, unter einem eingerahmten Foto von Martin Luther King: "Wie sollen wir eines Tages in Frieden mit den Israelis leben, wenn wir nicht jetzt den Weg dafür ebnen?", sagt er und sieht hinunter in den Schulhof, wo einige Schüler mit ihrer Lehrerin Spraydosen in bunten Farben auspacken.

300 Kinder besuchen insgesamt die 1984 von Issas Vater gegründete Schule. Es ist eine Entscheidung auf die Schule zu gehen, denn Hope Flowers ist aus mehreren Gründen besonders: Sie ist eine der wenigen Schulen im Westjordanland, die autistische Kinder aufnimmt. Sie bringt den Kindern bei, mit Traumatisierungen umzugehen, und sie hat sich Arbeit für den Frieden mit Israelis auf die Fahnen geschrieben.

Ibrahim Issa, Bethlehem, Palestinian Territories 2020 ©Mareike Lauken

Der 46-Jährige Issa hat Lachfalten um die Augen und für gewöhnlich einen Witz auf der Zunge. Er trägt Jeans und Hemd, anders als viele andere Schuldirektoren in den palästinensischen Gebieten, von denen viele nur in Krawatte ihre Schule betreten. "Für mich geht es darum, ich selber zu sein", sagt er: "Von tiefem Herzen zu geben." Bei seinem Ziel, präsent zu sein, hilft ihm seine morgendliche Meditation. Früh morgens, wenn alles still ist und seine fünf Kinder und seine Frau noch schlafen, kommt er in Gedanken zu sich und startet dann in einen arbeitsreichen Tag, der oft um sieben beginnt und erst um neun oder zehn Uhr abends endet.

Schule zwischen den Fronten

Eigentlich war etwas anderes für ihn vorgesehen: Nach seinem Schulabschluss ging Issa in die Niederlande, um Maschinenbau zu studieren. Nach seinem Masterabschluss wollte er diesen Weg fortsetzen. Doch dann starb im Jahr 2000 sein Vater, der Gründer der Hope Flowers School. Issa kehrte zurück, um seine Familie zu unterstützen. Kurz danach begann die Zweite Intifada und die Hope Flowers Schule stand buchstäblich zwischen den Fronten.

Auf dem Hügel der Siedlung Efrat, nur wenige Hundert Meter von der Schule entfernt, standen Panzer des israelischen Militär, hinter der Schule verschanzten sich militante Palästinenser. Schüsse flogen, während die Kinder Mathematik und Arabisch lernten. Issa besorgte kurzerhand einen Bus, um die Kinder sicher zu Hause abholen und nach Hause bringen zu können. Schon damals, zu Beginn der Zweiten Intifada, inmitten der Schießereien, verstand er, dass man auch mit der gegnerischen Seite sprechen muss, um etwas zu erreichen: Immer wieder handelte er kurze Gefechtspausen mit dem israelischen Armeechef aus. Oft hatte er nur zwanzig Minuten, um sechzig Kinder in seinem kleinen Bus nach Hause zu bringen.

 

Selbst wenn Issa von gewaltvollen Ereignissen erzählt, strahlen seine Gesichtszüge und seine Haltung Ruhe aus. "Ich versuche mir einen Satz meines Vaters zu Herzen zu nehmen", nickt er:

Wirkliche Anführer können negative Energie in positive verwandeln.

 

Wie wichtig diese Energieumkehrung auch für Issa selber ist, hat er im Jahr 2002 gelernt. Da riss das israelische Militär mit Bulldozern sein Haus nieder und steckte ihn ins Gefängnis. Nach einer Woche ließen sie ihn frei und sagten, sie hätten sich geirrt. Aber das Trauma saß tief. "Ein Jahr lang war ich nicht ich selbst." Ein niederländischer Freund und Psychotherapeut half ihm, mit seinen Erlebnissen umzugehen. Und so wurde aus diesem traumatischen Ereignis ein Segen. Denn er fand so zu seiner Bestimmung und wollte weitergeben, was er gelernt hatte. Er verstand, dass ein Knackpunkt war, die Kinder und Familien dazu zu bringen, über vermeintliche Schwächen zu sprechen: "In der stolzen, palästinensischen Gesellschaft gehört sich das nicht." Er gründete das Projekt "Hear my voice" und wurde 2004 der neue Direktor der Schule. Das Projekt läuft noch immer. Mittlerweile gehört dazu auch, Schuldirektoren und Lehrer dazu auszubilden, Traumatisierungen bei Schülern zu erkennen. Und nicht zuletzt auch bei sich selber.

Ibrahim Issa, Bethlehem, Palestinian Territories 2020 ©Mareike Lauken
Hope_Flowers_School_012_Bethlehem, Palestinian Territories 2020 ©Mareike Lauken

"Für mich ist es egal, woher jemand kommt"

Um eine friedvolle Gesellschaft zu schaffen und Gewaltanwendung zu vermeiden, müssen nicht verheilte Wunden verheilen – davon gehen Issa und die Psychotherapeutinnen an der Schule aus. "Es ist nicht immer leicht unter den hiesigen Bedingungen, authentisch zu bleiben", sagt der Visionär: "Aber am Ende sage ich immer wieder: Für mich ist es egal, woher jemand kommt. Ich kenne Palästinenser, mit denen ich mich nicht gut verstehe und Israelis, mit denen ich prima zurechtkomme."

Die Schule liegt im sogenannten C-Gebiet, in den palästinensischen Gebieten, aber unter israelischer Kontrolle. Auf dem nächsten Hügel ist die israelische Siedlung Efrat gelegen. Palästinensische Bauanträge werden in den C-Gebieten zu nahezu hundert Prozent abgelehnt, zahllose Gebäude in den palästinensischen Gebieten haben einen Abrissbefehl. Auch ein Teilgebäude der Schule. Issa geht dennoch in den Dialog, spricht auch mit Israelis. Er stößt Kooperationsprojekte mit israelischen Institutionen an, derzeit arbeiten Sonderpädagogen der Hope Flowers Schule gemeinsam mit israelischen Fachkräften an einem Programm für autistische Kinder.

Issa nickt in Richtung der Lehrerin auf dem Schulhof, die eine Sprühdose in der Hand hält: "Sie war zunächst über die Zusammenarbeit besorgt, aber ich weiß nicht, wie viele israelische Facebookfreunde sie mittlerweile hat."

Nicht alle sind einverstanden mit dem, was der Schuldirektor macht. Nationalistische Palästinenser lancieren Medienkampagnen gegen ihn und seine Schule, palästinensische und israelische Sicherheitskräfte interviewen ihn regelmäßig. "Friedensarbeit in Konfliktgebieten wie diesem hier ist nicht einfach", sagt Issa und blickt Richtung Siedlung: "Viele halten mich für naiv. Sie können den Unterschied zwischen Kollaboration und Friedensarbeit nicht verstehen." Doch ihm hilft die Überzeugung, das Richtige zu tun und nichts verstecken zu müssen.

Ob er manchmal alles hinschmeißen möchte? Issa schüttelt den Kopf: "Ich bin wahnsinnig froh, in dieser Zeit und an diesem Ort zu leben." Er steht am oberen Treppeneingang neben der Eingangstür zur Schule, unter ihm sprühen die Schüler mittlerweile durch Schablonen Schmetterlinge auf das Pflaster des Schulhofes: "Es ist schwer in Konfliktgebieten zu leben", sagt er: "Vor allem aber ist es eine Möglichkeit, präsent zu sein und etwas Bedeutungsvolles zu bewirken."

Über das Projekt

Die Hope Flowers School hat zum Ziel, Traumatisierungen bei palästinensischen Kindern zu erkennen und ihnen dabei zu helfen, sie zu verarbeiten. In Seminaren bilden Psychotherapeuten Lehrer und Schuldirektoren darin aus, Traumatisierungen bei Kindern und jungen Erwachsenen zu erkennen und zu verstehen, wie sie diesen in ihren Schulen begegnen können. Viele der Projekte werden gemeinsam mit israelischen Institutionen durchgeführt. Damit will die Schule zum Frieden der Zukunft erziehen.


Über die Autorin

Judith Poppe, Jahrgang 1979, lebt in Tel Aviv und ist die Korrespondentin der Tageszeitung taz für Israel und die palästinensischen Gebiete. Aus dem Nahen Osten berichtet sie auch für verschiedene andere deutschsprachige Medien. Sie wurde an der Universität Göttingen mit einer Arbeit über deutschsprachige Lyrik Israels promoviert.


Über das Förderprogramm zivik

Das Förderprogramm zivik unterstützt weltweit zivile Akteure dabei, Krisen vorzubeugen, Konflikte zu überwinden und friedliche gesellschaftliche und politische Systeme zu schaffen sowie zu stabilisieren. Mit ihrem Engagement ergänzen die Nichtregierungsorganisationen das Handeln staatlicher Akteure um wichtige Perspektiven und Akzente. Gefördert werden Projekte der zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung von NGOs, die international, national oder lokal tätig sind.

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