"Wie machen wir uns das Leiden rassifizierter Menschen bewusst?"

Offen rassistische Regierungen, Weiße Empfindlichkeiten – im Jahr 2021 ist Rassismus in allen Teilen der Welt nach wie vor präsent. Die kolumbianische Aktivistin Mauri Balanta Jaramillo spricht über das Leben in Cali, normalisierte und institutionalisierte Schwarzenfeindlichkeit und die Rolle von Verbündeten im Kampf dagegen.

ifa: Wie ist das Leben für Schwarze Menschen in Kolumbien?

Mauri Balanta Jaramillo: Kolumbien ist meiner Meinung nach nicht nur ein rassistisches Land. Ich denke, es ist ein Schwarzenfeindliches Land. In den meisten kolumbianischen Städten hat sich ein Verständnis urbaner Erfahrung entwickelt, das mit ganz bestimmten Vorstellungen einhergeht: In denen das Sprechen über Schwarzsein oder afrikanische Abstammung eine deutliche sozialräumliche Trennung widerspiegelt. In Cali, der Stadt, in der ich lebe, wird viel von Multikulturalität und Inklusion gesprochen, in Wahrheit herrscht jedoch das Modell einer als "Caleñidad" bezeichneten urbanen Kultur vor. Dieses wird vom kollektiven Unbewussten der Weißen und mestizischen Eliten sowie Bürokratinnen und Bürokraten bestimmt, die im Zentrum der kapitalistischen Stadt leben und Schwarzen die Chance auf ein gutes Leben und Würde verweigern. Dies übersetzt sich dann in einen hohen Anteil an Morden, Femiziden, Arbeitslosigkeit, sexueller Gewalt und Polizeibrutalität.

ifa: Können Sie mir ein Beispiel nennen, wie dieses Modell funktioniert?

Balanta Jaramillo: Von Arbeitsverhältnissen Schwarzer Menschen im urbanen Kontext zu sprechen, zum Beispiel, ist gleichbedeutend mit Informalität, Prekarität und Ausbeutung sowie geringen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Ich lebe und arbeite im Bezirk Aguablanca, einem der periphären Gebiete im Osten Calis, in dem vor allem Schwarze, verarmte Menschen leben. Diese Schwarzen Territorien funktionieren strategisch als Produktionsstätten für billige Arbeitskraft, ohne jede Regularisierung für die betroffenen Branchen. Folgerichtig soll uns durch die Maßnahmen sozialer Inklusion nur das Zurechtkommen mit der Armut vermittelt werden, zu der wir über Generationen hinweg verdammt sind. Auch der Bildungsstand ist im Osten Calis der niedrigste, es herrscht Resignation in Bezug auf das Beschulen Schwarzer Jugendlicher, weil davon ausgegangen wird, sie könnten im Leben ja ohnehin nichts anderes erreichen als ihre Eltern. Das Paradigma der Inklusion ist zu einem Mittel geworden, die Ablehnung des "Schwarzseins" im Rahmen der gesellschaftlichen Kultur zu steuern.

Rassifizierte Bevölkerungsgruppen erleben schwierigste Zeiten unter offen rassistischen Regierungen.

Portrait der kolumbianischen Aktivistin Mauri Balanta Jaramillo
Mauri Balanta Jaramillo, 2020, © Anthony Soto

Ganz gleich, wo – die Situation ist dieselbe

ifa: Ist es das, was Sie mit "Schwarzenfeindlichkeit" meinen und damit, wie diese über Rassismus hinausgeht?

Balanta Jaramillo: Genau. Rassismus ist das Resultat jener modernen Beziehung, die in der Logik des Kolonialismus erschaffen wurde. Schwarzenfeindlichkeit ist die Denklehre, durch die eine Vorstellung von "Schwarzsein" als sozialem Problem erzeugt und angewendet wird. In Anlehnung an den Internationalen Tag gegen Rassismus würde ich daher gern eine Frage aufwerfen:  Wie machen wir uns das Leiden rassifizierter Menschen bewusst? Und mit Bewusstmachung meine ich unsere tagtäglichen Praktiken, die Realität von unserem eigenen Standort aus zu denken, zu erzählen und abzubilden – vor allem dann, wenn wir diese Rassifizierung nicht selbst erfahren. Wenn wir von Rassismus sprechen, müssen wir diesen auch als etwas Strukturelles begreifen, als Bestandteil unserer Gesellschaft und unserer Institutionen. In Demokratien geht es dabei um die staatlichen Systeme: Bildung, Gesundheit, Wohnen, Arbeit, Freizeit und Justiz. Dazu gehört auch, sich damit auseinanderzusetzen, wie vom "Anderssein" Schwarzer Menschen ausgegangen wird. Beispielsweise halte ich es für notwendig, sich klar zu machen, wie schrecklich 2020 bezogen auf Rassismus war.

ifa: Beziehen Sie sich dabei auf Kolumbien oder auf die globale Situation?

Balanta Jaramillo: Ich spreche von der Situation weltweit: Durch die Pandemie vergrößern sich die sozialen Ungleichheiten. Rassifizierte Bevölkerungsgruppen erleben schwierigste Zeiten, wenn offen rassistische Regierungen an der Macht sind, wie während der Präsidentschaft von Donald Trump in den USA, von Jair Bolsonaro in Brasilien und von Iván Duque in Kolumbien. Mehr noch: Unter der Regierung von Duque sind in Kolumbien schon fast 400 Schlüsselfiguren sozialer Bewegungen ermordet worden -  Aktivistinnen und Aktivisten, die die rassifizierten, ländlichen und verarmten Bevölkerungsteile Kolumbiens repräsentierten, vor allem Schwarze Menschen.

Ganz gleich, wo auf der Welt – die Situation ist dieselbe. Wir sind bedeutungslos, verarmt, kriminalisiert. Durch die Art, in der Demokratie, Menschenrechte und Gleichberechtigung gesellschaftlich verhandelt werden, wird selten die Normalisierung von Gewalt gegen und die Kriminalisierung von Schwarzen Menschen in Frage gestellt. Im Gegenteil: Bei den Maßnahmen zur inneren Sicherheit werden Schwarze Menschen weiter als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse behandelt, in Kontinuität der rassistischen Beziehungen, die während des Systems der Sklaverei etabliert wurden.

"Lichter-Karneval für die Verteidigung des Lebens" im Osten Calis, 22. Jahrestag der Gründung des Kulturzentrums "El Chontaduro", 2018, Foto: Mauri Balanta Jaramillo

Eine Form von Rassismus

ifa: Könnten Sie das näher ausführen?

Balanta Jaramillo: Es gibt diesen Mythos, dass Gleichheit und Menschenrechte allen im gleichen Maß zuteilwürden. Gleichzeitig geht schon mit der Konzeption des "Schwarzseins" eine naturalisierte und tolerierte Abwertung einher. Zum Beispiel ist die Beziehung von Schwarzen Menschen zum Justizsystem stets problematisch, aufgrund der bestehenden Vorurteile zu Kriminalität. Eine Schwarze Person kann sich an die Justiz wenden und das erste, was ihr passiert, ist, dass sie selbst des Begehens einer Straftat verdächtigt wird. In Orten wie Cali lässt sich sagen, dass diese Logik existiert, sie gleichzeitig jedoch nicht als Verletzung bürgerlicher Grundrechte erkannt wird, da das von uns repräsentierte Territorium den Ruf hat, der problematische Teil der Stadt zu sein. Schwarze Menschen werden also nur als Problem wahrgenommen.
Es ist schwierig, die tiefgreifenden Wirkmechanismen von Rassismus zu erkennen, wenn wir uns auf ein Gesellschaftsmodell berufen, in dem die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe kaum akzeptiert ist. Menschen, die selbst keine rassifizierten Erfahrungen gemacht haben, können sagen: "Ich bin nicht rassistisch", und Rassismus als etwas wahrnehmen, was außerhalb ihrer selbst steht. Abzustreiten, wie tiefgreifend wir durch Rassismus geprägt sind, ist eine Form von Rassismus. Denn wir sind innerhalb dieses Systems mit den Konventionen des Rassismus sozialisiert und erzogen worden und damit aufgewachsen.

ifa: Am 21. März findet jährlich der Internationale Tag gegen Rassismus statt. Er wurde vor 55 Jahren von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Wie beurteilen Sie in der Rückschau die Entwicklung und den derzeitigen Stand im Kampf gegen Rassismus?

Zwei Kinder, die 2009 in Cali, Kolumbien, ein Plakat zum Jahrestag des Kulturzentrums "El Chontaduro" halten.
Kinder-Festival, 23. Jahrestag der Gründung des Kulturzentrums "El Chontaduro", 2019, Foto: Jeanne Liebermann

Balanta Jaramillo: Ich bin nicht gerade optimistisch in Bezug auf die ganzen Regeln, Maßnahmen und Lobby-Aktivitäten im Kampf gegen Rassismus. Ich fühle mich immer mit dem Konzept der Schwarzenfeindlichkeit verbunden. Der Sinn der Menschenrechte kann auf demokratischer Ebene verstanden werden, doch impliziert dies nicht notwendigerweise das Erkennen oder gar die Transformation der gewohnten Form der eigenen Bezüge zum "Anderssein".  Es wird als ein Problem von Schwarzen Menschen wahrgenommen. Ist die eigene Erfahrung davon nicht geprägt, kann gesagt werden: "Viel Erfolg dabei und ich hoffe, dass ihr in Zukunft eine bessere Position erlangt", ohne dass dies mit einem gesellschaftlichen Engagement verbunden sein müsste. Es reicht nicht aus, sich des Rahmens bewusst zu werden, es ist wichtig, sich seiner selbst und der eigenen politischen Position innerhalb dieses Rahmens bewusst zu werden. Ansonsten bleibt man nur in einer bloßen Zuschauerposition.

Verbündete, stellt euch nicht selbst in den Mittelpunkt

ifa: Für jene, die Verbündete sein wollen und nicht nur Zuschauerinnen und Zuschauer: Wie kann dieses Erkennen konkret aussehen?

Balanta Jaramillo: Wir müssen die Probleme weiterhin beim Namen nennen und beschreiben, statt gleich zur bequemen Lösung zu schreiten. Nicht-Schwarze Verbündete können sich an diesem Kampf beteiligen und ihn sich zu eigen machen, gleichzeitig leben sie jedoch weiter ihr Leben, in dem sie Privilegien und ein "normales" Anerkennen ihrer Rechte erfahren. Schwarze Menschen müssen sich den Kampf zu eigen machen, weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Verbündete, die es ablehnen, sich selbst im Zusammenhang mit den Machtbeziehungen der Sklaverei zu verstehen, verweigern damit anzuerkennen, wie notwendig es für Schwarze Menschen ist, sich zu verteidigen. Für viele Verbündete ist es schwer, eine auf die Hautfarbe bezogene Rückmeldung auszuhalten. Wenn sie selbst nicht wissen, wie tiefgreifend diese Gewalt ist, und wie schwer es ist, diese Erfahrungen zu machen, können Vorschläge zur Reflexion darüber leicht als Angriff auf das eigene Ich verstanden werden. Unsere Wurzeln, unsere Position und somit vielfach unsere Komplizenschaft innerhalb des rassistischen Systems anzuerkennen ist schwer, aber unvermeidlich. Wir müssen uns das zu eigen machen und es politisieren. Wenn dies gelingt, gibt uns diese Selbstkritik nicht nur die Chance, darüber zu reflektieren, inwieweit wir selbst rassistisch sind, sondern es ist auch eine Möglichkeit, das Konzept von race auf gesellschaftlicher Ebene zu transformieren.

ifa: Bisher haben wir darüber gesprochen, was das Individuum tun kann und muss. Was aber können Institutionen wie das ifa tun, die ja auch Teil des Systems sind?

Balanta Jaramillo: Kolumbien als Post-Konflikt-Gesellschaft hat viele internationale Geber und Projekte in Gebiete wie Aguablanca gezogen. Durch deren Interventionen gelingt es jedoch im Allgemeinen nicht, die lokalen Gemeinschaften dafür zu mobilisieren, eigene und kreative Lösungen für ihre Probleme zu finden. In vielen Fällen bedeutet dies eine Verschwendung von Ressourcen und Zeit. Die Wirksamkeit im Sinne einer Verringerung sozialer Ungleichheiten und der Förderung wirtschaftlicher Perspektiven mit dem Ergebnis von nachhaltiger Gleichberechtigung, Frieden oder sozialem Wandel, bleibt sehr gering.

Es ist daher wichtig, einen Dialog zwischen den lokalen Gemeinschaften und den Institutionen anzustoßen. Sich der politischen Vision bewusst zu werden, die hinter dieser Absicht steht, Ressourcen zu teilen, Projekte zu unterstützen oder kreative Alternativen zu den Problemen anzubieten, vor denen diese Gemeinschaften stehen. Bei eigenen Untersuchungen haben wir festgestellt, dass diese politische Vision nicht notwendigerweise eine Anstrengung beinhaltet, das Verhältnis zu Schwarzen Menschen oder zum "Schwarzsein" zu verändern. Ich möchte die Institutionen daher ermutigen, die möglicherweise vorhandenen eigenen Vorstellungen von Zielgruppen weitergehend zu analysieren. Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einem "Wir unterstützen und teilen Ressourcen", das auf eine reine Armutsfinanzierung hinausläuft, und einem "Wir wollen die Kompetenzen dieser Gemeinschaften stärken, damit sie die Realität selbst transformieren können."

Interview von Hannah Latsch

Redaktion und Autoren
Mauri Balanta Jaramillo
Aktivistin

Balanta Jaramillo ist eine Schwarze, queere und sich in der Arbeiterklasse verortende Wissenschaftlerin, Aktivistin und Filmemacherin. Sie ist die Leiterin für Kommunikation und Informationsmanagement des Kulturzentrums "El Chontaduro"; einer Basisorganisation, die sich zu einem Referenzpunkt im Kampf gegen rassistische Ungleichheit und für die politische Emanzipation Schwarzer Jugendlicher, Schwarzer Frauen und Schwarzer LSBTIQ* in Kolumbien entwickelt hat. Darüber hinaus ist sie Mitglied von "Interseccionalidades" ("Intersektionalitäten"), einer aktivistischen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Bezug zum Zentrum für Afro-Diasporische Studien der Universität ICESI (Cali, Kolumbien), die sich auf genderbezogene und rassifizierte Dynamiken räumlicher Unterdrückung fokussiert.

Balanta Jaramillo ist Alumna des CrossCulture Programms des ifa.