2016 flüchtete Sartep Namiq aus dem kurdischen Irak nach Berlin. Seine Erfahrungen auf der Flucht und im Auffanglager Tempelhof verarbeitete er in einem utopischen Comic, das er gemeinsam mit der Cyberpunk-Legende Bruce Sterling und Felix Mertikat, einem jungen Star der deutschen Comicszene, umsetzte. Der Comic erzählt, was sein könnte, wenn die Wirklichkeit nicht wäre, wie sie ist und zeichnet das Bild einer besseren Welt.
Sartep, der Protagonist der Geschichte, ist Künstler. Auf seiner Flucht hält er in Zeichnungen auf dem Smartphone fest, was er erlebt und was Menschen ihm erzählen. Als er das ärmliche Auffanglager Tempelhof vor den Mauern eines futuristischen Berlins erreicht, wird er von seinem Freund getrennt. Im Slum auf sich allein gestellt, erfährt er Gewalt und Ablehnung, aber auch Solidarität und neue Freundschaft. Und dann geschieht Unglaubliches: Plötzlich werden seine Zeichnungen Wirklichkeit, aus flüchtigen Strichen werden reale Häuser, Autos, Werkzeuge – und im Handumdrehen entsteht eine neue, fantastische Stadt. Der Traum von einer besseren Welt für alle rückt in greifbare Nähe.
Auch im echten Leben hoffte Sartep Namiq auf eine bessere Zukunft in Berlin. Zwölf Monate lang lebte er mit 900 anderen Menschen in einer Halle im alten Flughafen Tempelhof. Das Leben in der Notunterkunft für geflüchtete Menschen war eine Herausforderung und niemand wusste, wie es für ihn und die anderen weitergehen würde.
Während dieser Zeit lernte er Alexander Koch kennen. Der Direktor der "Gesellschaft der Neuen Auftraggeber" suchte das Gespräch mit Geflüchteten, um herauszufinden, inwiefern sie von dem Modell der Gesellschaft profitieren könnten. Die gemeinnützige Organisation unterstützt Menschen dabei, Projekte zu realisieren, die in ihrem Umfeld etwas bewegen sollen. Im Laufe vieler Gespräche entwickelte Namiq die Idee eines Comics, in dem sich die Unterkunft im Flughafen Tempelhof in eine fantastische Stadt verwandelt und in einen Ort der Zuflucht für alle.
Die Geschichte soll Lesende dazu anregen, eine andere Perspektive einzunehmen, ihre Mitmenschen wirklich zu sehen und Vorurteile gegenüber geflüchteten Menschen abzubauen. Besonders wichtig war dem irakischen Kurden dabei die Barrierefreiheit. Der Comic funktioniert ohne Sprache, sodass alle Menschen unabhängig von Herkunft und Bildung die Geschichte verstehen können.
Namiq wünschte sich eine Vision, eine Science-Fiction-Geschichte, in der alle Menschen gemeinsam eine bessere Welt erschaffen. Eine Welt, in der sich die Träume, die Wünsche und die Fähigkeiten aller frei entfalten können. So entstand der Comic "Temple of Refuge" – im Auftrag von Sartep Namiq.
Gemeinsam eine bessere Welt erschaffen
Insgesamt vier Jahre hat die Umsetzung des Projekts gedauert und viele Beteiligte haben daran mitgearbeitet. Die "Neuen Auftraggeber" brachten Namiq mit Bruce Sterling zusammen, der als einer der Begründer der Cyberpunk-Literatur internationale Bekanntheit erlangte. Unter Mitwirkung zwei weiterer Autoren entwickelte sich Sterlings und Namiqs Geschichte weiter. Der Zeichner Felix Mertikat setzte die entstandenen Ideen schließlich in ein Comicbuch um. Gänzlich ohne Worte zeigt die Geschichte auf über 80 Seiten, was sein könnte, wenn die Welt nicht wäre, wie sie ist: ein kreatives, respektvolles und gewaltfreies Zusammensein.
Für Namiq ist die Welt eine andere geworden. Er hat sich gut in Deutschland eingelebt. Der Neu-Berliner hat heute eine eigene Wohnung, eine Arbeitsstelle in einem Restaurant und engagiert sich sozial. Auch durch das Projekt haben sich für ihn viele neue Türen geöffnet.
"Alle können das Buch verstehen – auf der ganzen Welt"
Ausschnitte aus "Der Weg ist nicht geschafft, wenn man angekommen ist." - Sartep Namiq und Alexander Koch im Interview
Interview: Denhart v. Harling mit Unterstützung des Dolmetschers Razwan Anwar Mohamed
Alexander, für die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber ist "Temple of Refuge" ja ein besonderes Projekt. Ihr bietet Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, künstlerische Projekte in Auftrag zu geben, die gesellschaftlich etwas verändern sollen. Wie kam es zum Auftrag von Sartep?
Alexander Koch: Anfangs waren wir mit acht jungen Männern aus Kurdistan/Irak im Gespräch. Über mehrere Wochen trafen wir uns draußen in Parks und sprachen über die Lage in der temporären Notunterkunft Tempelhof, wo die Lebensumstände in den riesigen, kalten Hangars schwierig waren, und darüber, was man tun könnte. Eines Tages kam Sartep dann alleine in den Park. Die anderen hatten nach zwölf Monaten in der Notunterkunft den Mut und die Kraft verloren, in irgendeiner Weise noch über Zukunft nachzudenken. Aber Sartep sagte zu mir: "Ich bin hier! Ich will ein Projekt machen. Auch für all die, die nicht mehr die Kraft dazu haben. Ich bin Optimist und wir müssen etwas tun." Und so wurde Sartep der Auftraggeber des Projektes.
Wenn ich von hundert Personen, die Vorurteile gegen Menschen wie mich haben, fünf Personen mit meiner Geschichte erreichen kann, wäre das ein großartiger Erfolg.
Sartep, warum fiel deine Wahl auf das Medium Comic?
Sartep Namiq: Ich bin viel herumgekommen und überall habe ich gesehen, dass die Menschen ständig ihre Handys nutzen und online sind. Die Zeit ist schnelllebig und wenige lesen entspannt ein Buch. Gelesen wird zwischendurch auf dem Handy, in sozialen Netzwerken. Das Projekt sollte die Form eines Comics haben, weil ich in kurzer Zeit das Meiste verständlich machen wollte. Die Menschen, die den Comic in die Hand bekommen, sollen ihn schnell ansehen und sofort verstehen können. Deshalb war es mir auch wichtig, dass der Comic ohne Worte funktioniert. Die Bilder vermitteln die Geschichte so unmittelbar und das Layout ist so klar, dass man die Geschichte kaum falsch verstehen kann, selbst wenn man gar nicht lesen kann. Alle können das Buch verstehen – auf der ganzen Welt. Ohne die Grenzen, die Sprachen uns manchmal setzen. Das ist wichtig.
An wen hast du dabei gedacht? Wer ist dein Publikum?
Namiq: Der Comic ist für die breite Masse gedacht, für jeden. Aber vor allem habe ich ihn für nicht geflüchtete Menschen gemacht. Geflüchtete sind diesen Weg ja bereits gegangen und haben vergleichbare Erfahrungen wie ich. Für die sind solche Gedanken und Gefühle nichts Neues. Der Comic ist eher für Menschen, die keine Erfahrung mit Flucht haben und Geflüchteten vielleicht sogar ablehnend gegenüberstehen. Wenn ich von hundert Personen, die Vorurteile gegen Menschen wie mich haben, fünf Personen mit meiner Geschichte erreichen kann, wäre das ein großartiger Erfolg.
Künstler:innen und Mitwirkende
Realisiert im Auftrag von Sartep Namiq
Geschichte: Christopher Tauber, Matthias Zuber, nach einer Idee von Bruce Sterling
Illustration: Felix Mertikat
Farbe: Jacob Müller
Mediation und Leitung: Alexander Koch
Ko-Mediation: Natasha Aruri, Soran Ahmet
Projektleitung: Julia Jung, Karola Matschke
Team "Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber": Boushra Adi, Kathrin Aichele, Anna Freedman, Stefanie Kinsky, David Magnus, Clara Schulze, Henriette Sölter
Der fertige Comic erschien im März 2021 bei der Egmont Comic Collection. Er ist ein Projekt der "Gesellschaft der Neuen Auftraggeber" in Kooperation mit dem ifa – Institut für Auslandsbeziehungen, gefördert vom Auswärtigen Amt und unterstützt von der Fondation de France. Interessierte können ihn für 10,00 Euro (D) / 10,30 Euro (A) käuflich im Printformat erwerben. Alle Gewinne aus dem Verkauf der Comicbücher kommen der Hilfsorganisation Sea-Watch e.V. zugute, die Flüchtende aus Seenot rettet. Außerdem ist er kostenfrei in Gänze digital abrufbar.
Die "Gesellschaft der Neuen Auftraggeber" richtet sich an Menschen, die etwas verändern wollen und üblicherweise wenig Möglichkeit haben, das kulturelle Leben aktiv mitzugestalten. Auftraggeber:innen können bei erfahrenen internationalen Künstler:innen neue Projekte der Kunst, Literatur, Architektur oder Musik in Auftrag zu geben, die sich mit drängenden Fragen in ihrem Lebensumfeld auseinandersetzen. Die "Gesellschaft der Neuen Auftraggeber" schafft dafür den Rahmen und unterstützt alle Beteiligten bei der Beauftragung, Finanzierung und Ausführung der Projekte. Was dabei entsteht, sind gemeinnützige, öffentliche und nicht-kommerzielle Kulturgüter.