Akademie der Künste, Frontansicht

Orte der Reflexion

Die Erfahrungen der letzten Wochen und Monate haben Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste, vor Augen geführt, dass die persönliche Begegnung für den zwischenmenschlichen Austausch unverzichtbar ist.

ifa: Wie geht es Ihrer Institution seit und in der Corona-Krise? Wie verändert die aktuelle Situation die Arbeit der Akademie der Künste und ihre Konzeption?

Jeanine Meerapfel: Wir bewegen uns aktuell auf ungewohnt unsicherem Gelände und entwickeln verschiedene alternative Pläne: analoge, digitale, hybride – und wir eruieren die dafür anfallenden Kosten. Diese Planungsunsicherheit in der organisatorischen Arbeit ist eine Erfahrung, mit der wir lernen müssen zu leben. Die Digitalisierung unserer Programme ist in den letzten Wochen und Monaten einen großen Schritt vorangekommen. Gleichzeitig wurde der Blick auf das Verhältnis von digitalem und analogem Raum geschärft und wird weiter geschärft werden müssen. Für unsere Ausstellungspraxis ist die Neuorientierung – abgesehen von den hohen Kosten – mit einer entsprechend geplanten Ausstellungsarchitektur, online angebotenen Zeitfenstertickets zur Regulierung der Besucherinnen - und Besucherzahlen und ähnlichem noch relativ einfach umzusetzen. Die Akademie der Künste ist aber nicht nur ein Ausstellungsort, sondern eine Künstlerinnen- und Künstlergemeinschaft mit über 400 Mitgliederinnen und Mitgliedern aus allen künstlerischen Bereichen. Wir machen uns große Sorgen um das Überleben freischaffender Künstlerinnen und Künstler, von denen viele in ihrer Existenz bedroht sind. Deswegen denken wir auch darüber nach, wie die freie Kunst- und Kulturszene künftig fairer gestaltet werden kann.

ifa: Wie sprechen Sie unter den veränderten Bedingungen Ihr Publikum an? Welches Publikum erwarten Sie und was erwarten Sie von Ihrem Publikum?

Meerapfel: Auf der einen Seite nutzt natürlich auch die Akademie der Künste nun verstärkt digitale Formate. Zu unserer bis Ende August gezeigten Ausstellung "John Heartfield – Fotografie plus Dynamit" entstanden digitale Alternativen, darunter der Onlinekatalog und eine virtuelle Ausstellung mit dem Titel "Kosmos Heartfield". Gespräche mit Akademiemitgliedern über ihre aktuellen Arbeiten und das Potential künstlerischen Handelns in Krisenzeiten werden online präsentiert, das "Labor Beethoven 2020" fand als virtuelles Festival statt und auch das 60. Jubiläum des Käthe-Kollwitz-Preises feiert die Akademie online mit einer umfangreichen Sammlung an Archivmaterial bisher unveröffentlichter Texte, Bilder und Tonaufnahmen. Auf der anderen Seite lebt die Kunst auch von der "Aura des Originals", der Materialität, die im digitalen Raum nicht transportierbar ist. Als im Rahmen unseres Vermittlungsprogramms "Kunstwelten" die erste Schulklasse die Heartfield-Ausstellung besuchte, waren die jungen Leute von der Materialität der Originale fasziniert.
Eines ist in unseren Erfahrungen der letzten Wochen und Monate deutlich geworden: die persönliche Begegnung ist für den zwischenmenschlichen Austausch unverzichtbar. Weder eine virtuelle Welt noch Künstliche Intelligenz können sie ersetzen. Wir werden Formate entwickeln, die unter Einhaltung der Hygieneregeln die direkte menschliche Begegnung weiterhin erlauben – und das im Idealfall für ein Publikum, das so vielfältig ist wie bisher.

ifa: Was betrachten Sie als die vorrangigen gesellschaftlichen Aufgaben Ihrer Institution?

Meerapfel: Die Akademie der Künste als internationale Gemeinschaft von Künstlerinnen und Künstlern dient der Förderung der Künste. Sie vertritt die Freiheit und den Anspruch der Kunst in Staat und Gesellschaft. Sie macht die Öffentlichkeit durch ihr Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm mit künstlerischen Positionen der Gegenwart bekannt. Sie trägt zur Bewahrung des kulturellen Erbes bei, indem sie ihre Archivbestände pflegt, erweitert und erschließt. Und sie berät insbesondere die Bundesrepublik Deutschland in Angelegenheiten der Kunst und Kultur.

ifa: In welcher Weise sollten Museen Geschichten, Bilder und Erzählmuster vermitteln und reflektieren?

Meerapfel: Museen sollten Orte sein, an denen verschiedene gesellschaftliche Narrative präsentiert und zur Diskussion gestellt werden. Auch die Akademie der Künste ist ein solcher Ort. Die Freiheit der Kunst ist dabei von besonderer Bedeutung. Viele Künstlerinnen und Künstler reflektieren in ihren Arbeiten gesellschaftliche Entwicklungen, sie bewegen sich außerhalb etablierter Machtstrukturen und stellen sie in Frage. Der ästhetische Blick bietet neue Perspektiven und Sichtweisen auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erzählungen zu relativieren und ein Bewusstsein für die Gleichwertigkeit oder Gleichberechtigung alternativer Erzählungen zu schaffen sollte ein zentraler Bestandteil der gegenwärtigen musealen Praxis sein.  

ifa: Welche Konzepte verfolgen Sie hinsichtlich der Zugänglichkeit und Partizipation zu Beständen, zu Wissen und zu Lesarten?

Meerapfel: Das Archiv der Akademie der Künste gilt als bedeutendstes interdisziplinäres Archiv zur Kunst und Kultur der Moderne im deutschen Sprachraum. Seine zentrale Aufgabe besteht darin, künstlerisch und kulturgeschichtlich wichtige Archive, Sammlungen und Kunstwerke aus allen Kunstsparten der Zeit nach 1900 zu erwerben, zu verzeichnen und für die Wissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit bereitzustellen. Das Archiv der Akademie der Künste kann für wissenschaftliche, publizistische oder private Studien kostenfrei genutzt werden. Eine umfangreiche Datenbank gibt online Auskunft zu den Archivbeständen.
Die Programm- und Archivabteilungen entwickeln darüber hinaus Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramme, indem sie ausgewählte Archivalien und künstlerische Arbeiten zu aktuellen Themen oder kulturpolitischen Fragestellungen präsentieren.  
Das Vermittlungsprogramm "Kunstwelten" wendet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Es schöpft aus der Vielfalt und dem Zusammenspiel der Werke und Erfahrungen der internationalen Mitglieder und Stipendiatinnen und Stipendiaten, der Künstlerarchive und Sammlungen der Akademie. Führungen und Einführungen, Gespräche, Werkstätten und künstlerische Aktionen veranschaulichen Themen und Projekte der Akademie und ihrer Mitglieder.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt: "Das kulturelle Gedächtnis ist wie das individuelle Gedächtnis [...] auf externe Anstöße oder 'trigger' angewiesen. Was in Museen, Archiven und Bibliotheken dauerhaft gespeichert ist, das muss zu bestimmten Gelegenheiten getriggert, sprich: immer wieder gelesen, ausgestellt, aufgeführt, inszeniert, kurz: reaktiviert werden." (1) 2021 feiert die Akademie der Künste das 325. Jahr ihres Bestehens. Dieses Jubiläum, als ein "Denkmal in der Zeit" wie es Aleida Assmann formuliert hat, dient der Akademie als Gelegenheit um ihr Gedächtnis zu "triggern". Es ist Anlass dafür, Gespeichertes, sorgsam Bewahrtes, aber auch in Vergessenheit geratenes oder Verschwundenes hervorzuholen, in Erinnerung zu rufen, herauszustellen, neu zu lesen und danach zu befragen, ob es uns "etwas sagt". Ist es Teil des kulturellen Gedächtnisses? Oder ist es herausgefallen? Ist es auf unsere gegenwärtige Situation übertragbar? Taugt der Blick zurück gar als Zukunftsvision?

ifa: Verstehen Sie Ihre Institution dabei als Ort des politischen Diskurses?

Meerapfel: Im besten Falle verstehe ich die Akademie der Künste auch als Ort eines Diskurses zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Kunst, Politik und Zivilgesellschaft. Selbstverständlich sind politische Positionen Teil der Kunstausübung; politische und soziale Fragen sind inhärente Bestandteile der künstlerischen Praxis.

ifa: Wie können Museen heute international, post-nationalstaatlich und verantwortungsvoll wirken?

Meerapfel: Im Prinzip liegt die Antwort schon in der Frage nach der Aufgabe von Museen, Geschichten, Bilder und Erzählmuster zu reflektieren. Eine verantwortungsvolle museale Praxis muss etablierte nationale Sichtweisen in Frage stellen, die blinden Flecken in der nationalen Geschichtsschreibung und eigene Verantwortlichkeiten benennen. Darüber hinaus gilt es, die verschiedenen nationalen und internationalen Narrative zu respektieren – als Ausgangspunkt für einen gleichberechtigten internationalen Dialog. Noch stolpert der "old white man" recht unbeholfen durch den postkolonialen Diskurs. Noch sind Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft tief verankert. Sie gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Problemen, die wir angehen müssen.  

ifa: Museen übernehmen heutzutage sehr viele und unterschiedliche Funktionen. Wie würden Sie definieren, was das Museum heute ist oder sein sollte?

Meerapfel: Museen sollten Orte der Reflexion und der zwischenmenschlichen Begegnung sein – auch zwischen Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Generationen, sozialer Gruppen, Nationen und Religionen. Im Idealfall üben wir hier den gemeinsamen Austausch und Dialog, öffnen Türen zum Verständnis anderer Kulturen, öffnen Augen und Ohren zum Erleben von poetischen Welten.

(1)    Aleida Assmann, Journal der Künste 12, S. 17


Prof. Jeanine Meerapfel ist Präsidentin der Akademie der Künste

MuseumsNow

Unter dem Titel "MuseumsNow" befragte das ifa Akteurinnen und Akteure internationaler Museen nach ihren aktuellen Erfahrungen, Herausforderungen und Visionen – auch vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie. Die Interviews und Berichte geben einen Einblick in gegenwärtige museale Praktiken und zivilgesellschaftliches Handeln von Museen weltweit.

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