ifa: Am 9. Mai ist Europatag – der offizielle Feiertag der Europäischen Union zur Erinnerung an die ersten Schritte der Vereinigung Europas. Der Leitspruch der EU lautet "In Vielfalt geeint". Sie sind Teil der deutschen Minderheit in Polen und leiten dort den Verband der deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaft. Minderheiten werden oft als Brückenbauer zwischen Kulturen bezeichnet. Inwiefern tragen sie an ihren Wohnorten dazu bei, dieses Motto zu leben?
Bernard Gaida: Tendenziell kann man sagen, dass Minderheiten eine gewisse Offenheit in der Gesellschaft fördern. In Regionen, in denen die Mehrheitsgesellschaft viel mit Minderheiten zu tun hat, können sich Menschen leichter mit der europäischen Idee anfreunden. Vielfalt wird dort eher als eine Bereicherung und nichts Gefährliches empfunden – leider nicht immer. Als Mensch einer Minderheit sage ich, wir sind grundsätzlich für Europa, aber in erster Linie im Sinne einer Wertegemeinschaft. Das beinhaltet vor allem die Wertschätzung der persönlichen Freiheit sowie der Differenzen zwischen Menschen und Kulturen, aber auch die Anerkennung unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Ich selbst lebe in der Region Oppeln, in Schlesien, im Westen Polens. In Polen sieht man es ganz deutlich an den Wahlergebnissen: In Orten, in denen es eine große sichtbare Minderheit gibt, bekommen pro-europäische Parteien mehr Stimmen als in Regionen ohne Minderheiten. Eine gute Minderheitenpolitik kann also auch als eine europäische Politik betrachtet werden.
"Uns verbindet die Erfahrung, eine Minderheit zu sein."
ifa: Insgesamt leben auf dem europäischen Kontinent etwa 100 Millionen Menschen, die sich zu einer Minderheit zählen. Etwa die Hälfte davon lebt innerhalb der Europäischen Union. Deren Stellung innerhalb von Nationalstaaten kann ganz unterschiedlich sein – somit auch deren Lebensrealität. Gibt es etwas, das alle vereint – ein gemeinsames Interesse auf europäischer Ebene?
Gaida: Uns alle verbindet die Erfahrung, eine kulturelle und sprachliche Minderheit in einem Staat zu sein. Bildung in der Minderheitensprache ist dabei für fast alle ein sehr wichtiges Thema. Auch wenn die rechtliche Lage auf der europäischen Ebene theoretisch für alle Minderheiten gleich ist, gibt es starke regionale Unterschiede in der Praxis und bei der rechtlichen Lage in den einzelnen Nationalstaaten. In Rumänien gibt es ein sehr gut ausgebautes deutschsprachiges Schulwesen – vom Kindergarten bis hin zur Hochschule. Auch in Ungarn wird es Jahr für Jahr besser. Das würden wir uns in Polen auch wünschen. In Polen ist die deutsche Minderheit zahlenmäßig viel größer als in Rumänien, aber es gibt keine Schule mit Deutsch als Unterrichtssprache und sehr wenige Klassen, die zweisprachig unterrichtet werden. So ist es schwierig Deutsch als Alltagssprache zu erhalten.
ifa: Der Europarat ist neben der Europäischen Union eine internationale europäische Organisation, die sich mit europäischen Themen befasst, insbesondere im Bereich der Menschenrechte. Alle 47 Mitgliedsstaaten haben die beiden Abkommen unterzeichnet. Dann gibt es bereits gemeinsame europäische Standards, oder nicht?
Gaida: Der Europarat gibt Staaten eher Empfehlungen, hat aber wenig Umsetzungskompetenzen. Wir Minderheiten in Europa nehmen dessen Arbeit mehr als eine Art Monitoring-Prozess wahr: Alle drei Jahre gibt es einen Expertenausschuss, in dem Minderheiten ihre Anliegen vortragen, aber in der Praxis passiert dann wenig – so ist unser Eindruck. Was bedeutet beispielsweise das Recht auf Mehrsprachigkeit genau und wie soll es konkret in einem Staat umgesetzt werden? Nicht nur beim Thema Schulwesen gibt es enorme Unterschiede in der praktischen Umsetzung innerhalb europäischer Staaten. Ein weiteres Beispiel sind zweisprachige Ortsschilder: Voraussetzung hierfür ist in Polen, dass sich mindestens 20 Prozent der Ortsansässigen in der letzten Volkszählung zu einer Minderheit bekannt haben. In Tschechien sind es nur 10 Prozent. In Deutschland gilt für Sorbinnen und Sorben ein historisches Recht auf Zweisprachigkeit, ohne eine zahlenmäßige Größe stellen zu müssen. Wir würden uns wünschen, dass Minderheitenpolitik stärker in den Kompetenzbereich der Europäischen Union fallen würde und nicht allein des Europarates.
"Eine starke Minderheitenpolitik in der EU hilft auch Minderheiten außerhalb der EU."
ifa: Das gemeinsame politische Sprachrohr von Minderheiten auf europäischer Ebene ist die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten, kurz FUEN. Sie hat auch die Minority SafePack-Initiative ins Leben gerufen, um Minderheitenschutz zu einer Angelegenheit der Europäischen Union zu machen.
Gaida: Die FUEN trägt mit der Minority SafePack-Initiative unsere gemeinsamen Anliegen in die Institutionen, die exekutive Befugnisse haben, wie die Europäische Kommission. Best Practice Beispiele aus verschiedenen Ländern könnten so leichter in anderen Staaten übernommen werden – wie zum Beispiel eine erfolgreiche Umsetzung des Rechts auf Gleichstellung der Minderheitensprachen, also des Rechts auf Mehrsprachigkeit. Davon würden auch Minderheiten außerhalb der EU profitieren. Ich ziehe wieder das Beispiel der deutschen Minderheiten heran: Es gibt auch außerhalb der EU und Europas deutsche Minderheiten wie in der Ukraine, in Georgien, in Kasachstan, in Aserbaidschan und in Russland. Wäre Minderheitenpolitik ein wichtiger Bestandteil der Politik der Europäischen Union, würden sich sicherlich auch Staaten außerhalb der EU verstärkt mit Minderheitenthemen beschäftigen. Leider zeigt die Europäischen Kommission aktuell wenig Interesse an der Minority SafePack-Initiative.
Interview von Mirjam Karrer