Ausstellung "Boryana Petkova and Michail Michailov. Craving Nothing" in der Structura Gallery Sofia, 2020

Insel der Redefreiheit

Für Maria Vassileva, Direktorin der Structura Gallery in Sofia, war der Lockdown eine Zeit, in der die politische Ausbeutung der Krise in Frage gestellt wurde und in der sie sich intensiver mit Kunstschaffenden, Besucherinnen und Besuchern und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzen musste.

ifa: Wie ist Ihre Institution während der Krise zurechtgekommen und wie läuft es seitdem? Wie hat die aktuelle Situation die Arbeit Ihrer Galerie und ihr Konzept verändert?

Maria Vassileva: Ich führe eine private Galerie, die ein gemischtes Profil hat. Sie folgt einigen Leitlinien kommerzieller Galerien, indem sie versucht, Sammlerinnen und Sammlern Wissen zu vermitteln, den Kunstmarkt in Bulgarien zu erweitern und zudem Künstlerinnen und Künstler auf internationalen Kunstmessen zu präsentieren. Gleichzeitig agieren wir auch als unabhängige kulturelle Institution, als eine Art Kunsthalle, die an verschiedenen nicht kommerziellen Projekten mit dem Ziel arbeitet, die künstlerische Szene neu zu beleben und Künstlerinnen und Künstler wie auch die Öffentlichkeit bei einigen sensiblen gesellschaftlichen Themen zu Engagement zu ermutigen.
Während der Krise befanden wir uns im Lockdown. Wir mussten zwei große Ausstellungen absagen oder verschieben, verloren einige Förderungen wie auch manche Honorare für abgesagte Kunstmessen, die nur teilweise erstattet wurden. 
Seit dem ersten Tag der Krise war uns bewusst, dass wir sehr aktiv sein müssen, um uns und unsere Partnerinnen und Partner (Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren, Kritikerinnen und Kritiker, Sammlerinnen und Sammler, Öffentlichkeit) motiviert und bei Laune zu halten. Wir starteten mehrere starke Programme online – Ausstellungen und Gespräche. Wir nutzten die Zeit, um den Kontakt zu den Künstlerinnen und Künstlern, mit denen wir arbeiten, zu intensivieren, und neue Namen zu entdecken, und wir konnten neue Wege ausprobieren, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Wir richteten auch ein Archiv für Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern ein mit dem Fokus auf ihre künstlerische Entwicklung, aber auch auf ihre gesellschaftliche Rolle und ihr soziales Bewusstsein. Es war für uns als Kultureinrichtung wichtig, den Platz und die Bedeutung freier Stimmen in unserer Gesellschaft in einer Zeit zu betonen, in der die Gesundheitskrise für politische Zwecke ausgenutzt werden kann. Die aktuelle Situation hat unsere Arbeit definitiv verändert und neue Themen auf die Agenda gebracht. Wir hatten auch die Zeit, die Pros und Kontras der Online-Kommunikation zu bewerten und zu entdecken, dass es Möglichkeiten gibt, die wir in Zukunft weiterverfolgen wollen.

ifa: Wie sprechen Sie Ihre Öffentlichkeit in diesem neuen Kontext an? Welche Art von Öffentlichkeit erwarten Sie und was erwarten Sie von Ihrer Öffentlichkeit?

Vassileva: Wir müssen unsere Öffentlichkeit auf jeden Fall persönlicher ansprechen. Die Menschen sind dieser Tage sehr fragil und jeder braucht und erwartet einen behutsamen Zugang. Es ist auch eine gute Gelegenheit für uns, mehr mit Besucherinnen und Besuchern zu sprechen und unsere Beziehungen auf ein anderes Level zu bringen. In den "normalen" hektischen Zeiten haben wir dafür keine Zeit und der Kontakt ist sehr förmlich und oberflächlich. Heutzutage haben wir weniger Besucherinnen und Besucher, aber wir können tiefere Verbindungen herstellen.

ifa: Worin besteht Ihrer Meinung nach im Wesentlichen die soziale Verantwortung Ihrer Galerie?

Vassileva: Als private Institution sind wir nicht dazu verpflichtet, Spiele zu spielen oder die Behörden zufrieden zu stellen. Also besteht unsere primäre soziale Aufgabe darin, eine stabile Insel der freien Rede zu sein. In Bulgarien ist heute die COVID-19-Krise weniger furchterregend als die politische Situation, die sehr schnell außer Kontrolle gerät. Die Freiheit ist real bedroht. Wir müssen sehr hartnäckig sein in unseren Bemühungen, über die traumatischsten gesellschaftlichen Themen zu diskutieren.

ifa: Wie sollten Kunstinstitutionen Geschichten, Bilder und narrative Muster vermitteln und reflektieren?

Vassileva: Jede Institution sollte ihren eigenen Weg finden, auf Geschichte und zeitgenössische Entwicklungen zu reagieren. Als Kuratorin bin ich immer davon fasziniert, die Kunstgeschichte im Hinblick auf jüngere Ereignisse neu zu lesen. So wischt man den Staub vom Museumsdepot und erregt das Interesse der Leute. Die Geschichte muss für uns arbeiten. Ansonsten ist sie nur eine schlafende Schönheit wie Dornröschen, ein Märchen, das nichts mit unseren Leben zu tun hat.  

ifa: Welche Konzepte verfolgen Sie im Hinblick auf Zugang, Teilhabe und Interpretationen Ihrer Ausstellungen?

Vassileva: Es ist ein sehr sensibles und kompliziertes Thema, wie Fachleute Kunstwerke interpretieren und erklären – und sogar, wie wir sie einem Publikum präsentieren. Eine Menge Bilder auf Websites von Institutionen funktionieren für mich nicht. Sie können nur Forschungszwecken dienen, aber nicht der Bildung. Es liegt in unserer Verantwortung, der Öffentlichkeit die Werke zu zeigen, die für den gegenwärtigen Augenblick am besten passen, und dann durch diese zu sprechen. Flexibilität ist in diesen turbulenten Zeiten sehr wichtig. Wir können uns nicht auf traditionelle Modelle einer historischen Lesart von Kunst verlassen. Das ist langweilig und kann kaum mit anderer Unterhaltung, die zur Verfügung steht, konkurrieren. Klassische, moderne und zeitgenössische Kunst zu mischen, führt oftmals zu interessanten Ergebnissen und bietet viele verschiedene Wege, über die Welt in all ihrer Globalität und Fülle zu diskutieren, anstatt lokale Geschichten und fragmentarisches Wissen zu präsentieren.

ifa: Sehen Sie Ihre Galerie als einen Ort für politischen Diskurs?

Vassileva: Sicher betrachte ich jede Kulturinstitution als einen solchen Ort. Zwischen Oktober und November zeigt Structura zum Beispiel die Kriegszeichnungen von Otto Dix. Für mich ist aber auch wichtig, meinen Zeitgenossinnen und -genossen die Botschaft in diesen Werken zu "übermitteln". Deshalb haben wir uns dafür entschieden, einige politische Arbeiten von neueren Künstlerinnen und Künstlern miteinzubeziehen und eine Konferenz über Kunst und Politik zu organisieren. So sollten wir meiner Ansicht nach mit dem künstlerischen Erbe arbeiten.

ifa: Wie können Kulturinstitutionen heute international, post-national und verantwortlich arbeiten? 

Vassileva: Jede Institution sollte aus ihrem Schneckenhaus kommen, offener und kommunikativer sein. Die Zeit der prätentiösen Museen ist vorüber. Sie müssen Teil eines weltweiten Netzwerks der Kunst werden. Sie müssen mit privaten Galerien, NGOs, Stiftungen, Individuen und so weiter arbeiten. Ansonsten sind sie in ihrer eigenen Festung gefangen, aber die Menschen verlieren das Interesse daran, Festungen einzunehmen. Sie wollen eine freundlichere und offenere Umgebung. Museen können viel über das wahre Leben von den kleinen unabhängigen Institutionen lernen, die jeden Tag an vorderster Front sind.

ifa: Museen erfüllen heutzutage viele Aufgaben. Wie würden Sie definieren, was ein Museum ist oder sein sollte?

Vassileva: Zunächst einmal müssen sich Museen voneinander unterscheiden. Wir haben genug von Copy-Paste-Museen, in denen das nächste Werk schon vorhersehbar ist. Ich bevorzuge den Slogan "Museen ohne Definitionen". Sie müssen selbst ihren eigenen Charakter finden – nicht im Sinne der Architektur, aber hinsichtlich der Ausstellung und Interpretation von Sammlungen. Wir erwarten sicherlich mehr von Museen. Wir brauchen keine abgegriffenen Stellungnahmen. Wir wollen provoziert, beansprucht, entzückt werden. Wir müssen auch wissen, dass Museen auf unserer Seite sind – dass sie auf Augenhöhe mit uns um unsere Bürgerrechte kämpfen. 


Dr. Maria Vassileva ist die Direktorin und Gründerin der Structura Gallery in Sofia.

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Unter dem Titel "MuseumsNow" befragte das ifa Akteurinnen und Akteure internationaler Museen nach ihren aktuellen Erfahrungen, Herausforderungen und Visionen – auch vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie. Die Interviews und Berichte geben einen Einblick in gegenwärtige museale Praktiken und zivilgesellschaftliches Handeln von Museen weltweit.

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