Außenansicht des Museums für Naturkunde Berlin; links und rechts vom Eingang die Banner, rot und weiß, vom Martin Roth Symposium

Die Marktplätze von morgen

Noch in keiner Zeit seit dem 19. Jahrhundert befanden sich die Museen weltweit in einer ähnlichen Umbruchsituation. Darin bestand bei aller Vielfalt der Stimmen Einigkeit auf dem zweiten Martin Roth Symposium, das vom ifa in Kooperation mit re:publica vom 07. bis zum 11. September veranstaltet wurde. Als digitale und analoge Themenwoche führte es rund 45 internationale Expertinnen und Experten aus Kultur, Wissenschaft, Kunst und Politik zusammen, die unter dem Titel "MuseumFutures" über Konflikte und Perspektiven diskutierten.

Zum einen sind die Museen heute mit den Herausforderungen durch die "drei großen D" konfron-tiert, wie es Ulrich Raulff, Präsident des ifa, formuliert: "Digitalisierung, Dekolonisierung und Diversität". Zum anderen setzt die COVID-19-Pandemie, die Individuen wie Institutionen gleicherma-ßen trifft, sie unter zusätzlichen Druck, die eigene Rolle und Relevanz zu hinterfragen.

Der Corona-Situation war es auch geschuldet, dass das Symposium – mit futuristischem Beiklang MaRS abgekürzt – 2020 zu großen Teilen als Stream stattfand: mit Online-Formaten wie Sprints, zehnminütigen Vorträgen der eingeladenen Sprecherinnen und Sprecher, vertiefenden "Deep Dives" sowie bilanzierenden "Future Forward"-Panels.

Eine Form, die dem Namensgeber der Themenwoche, dem verstorbenen Museumsdirektor Martin Roth, durchaus zugesagt hätte, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überzeugt ist: weil sich mit der so versammelten "internationalen Lern- und Wissensgemeinschaft" die Idee einlöse, die Roth vom Museum selbst gehabt habe – eine Plattform für offene Diskussionen zu sein, ein "Marktplatz der Ideen" sowie eine "intellektuelle Freihandelszone". In den Worten von Joseph Beuys: "Das Museum ist ein Ort der permanenten Konferenz".

Museen und Zukunft: Grenzüberschreitend und inklusiv

Eine der zentralen Zukunftsfragen lautet, wie es gelingen kann, alle Teile der Gesellschaft zu adressie-ren – sei es als Museum für Kunst, Geschichte oder Wissenschaft. Für manche liegt die Antwort in digitalen Technologien, in virtueller Realität oder Augmented Reality, die immersive Erlebnisse schaffen sollen. Alain Biber, künstlerischer Direktor und Geschäftsführer des NRW-Forums in Düs-seldorf, verweist auf die von ihm mitinitiierte Plattform "nextmuseum.io", die Besucherinnen und Besucher einlädt, selbst als Co-Kuratorinnen und-Kuratoren aktiv zu werden und neue Formate der Kommunikation und Vermittlung zu entwickeln.

Freilich liegt der Frage nach Partizipation noch eine tiefere, gesellschaftspolitische Ebene zugrunde. Museen, findet Andrew McClellan, Professor für Kunstgeschichte an der Tufts University in Medford, USA, hätten zu lange "ein elitäres Konzept von Kunst propagiert". Die "Priorisierung von Museumsraum"– welche Kunst kommt dort vor, welche Menschen fühlen sich davon angesprochen und repräsentiert – sei "die Matrix für Ausschlüsse". Wie wäre es, wenn etwa ein irakischer Geflüch-teter durch das Britische Nationalmuseum führen würde – ohne kuratorische Vorgaben? Ein Anstoß der indischen Professorin und Dekanin an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi, Kavita Singh. Nicht nur tritt sie für die Öffnung der Museen gegenüber marginalisierten lokalen Communitys ein. Sie plädiert auch dafür, bestimmte konservatorische Protokolle abzuschaffen, die den Aus-tausch von Sammlungen zwischen dem globalen Norden und Süden erschweren. Das, so Singh, wäre tatsächlich eine dekolonisierende Praxis.

Mehr Zusammenarbeit der Museen über Grenzen hinweg – das regt auch Zelfira Tregulova für die Zukunft an, Direktorin der Tretjakow-Galerie in Moskau. Allein schon, weil die kulturellen Einrichtungen vielerorts den gleichen Feind hätten: jene "antiliberalen und nationalistischen Tendenzen", die auch dem überzeugten Europäer Martin Roth Anlass zur Sorge gaben.

Museen und Macht: Aus Haltung Handlung werden lassen

Freilich sind es auch neue soziale Bewegungen wie "Fridays for Future" oder "Black Lives Matter", die die Museen in ihrem Selbstverständnis herausfordern – bezüglich ihrer Rolle in der Gesellschaft, aber genauso hinsichtlich ihrer internen Strukturen. "Black Lives Matter", stellen Julia Grosse und Yvette Mutumba – Chefredakteurinnen der Magazine "Contemporary And" und "Contemporay And América Latina" – in ihrem Sprint fest, habe einen enormen Einfluss auf die Kunstszene. "Institutionen erkennen nun, dass sie Position beziehen müssen". Was konkret bedeutet: aus Haltung Handlung werden zu lassen, daran mitzuwirken, andere Machtverhältnisse herzustellen. In Grosses Augen beginnt das mit einer diverseren Mitarbeiterschaft im eigenen Haus – "eben nicht nur im Bereich des Sicherheitspersonals". Und verlangt zudem, den Begriff von Rassismus über die Diskriminierung von Schwarzen oder People of Colour hinaus zu weiten. Auch durch Kollektionen, die sich ausschließlich auf europäische oder nordamerikanische Perspektiven beschränkten, würden schließlich Machtgefälle reproduziert. "Wo Inklusion gefordert wird, hat zuvor Exklusion stattgefunden", gibt Mutumba zu bedenken.

Gus Casely-Hayford, Direktor des Victoria & Albert East in London, beleuchtet vor diesem Hinter-grund die gesamte Museumsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert als imperiale und auf kulturelle Vormacht zielende Tradition der Unterdrückung: "Gewöhnlich westlich, gewöhnlich männlich, so oft weiß".

In Südafrika, wo Rooksana Omar als CEO der Iziko Museums arbeitet, sei für viele Menschen die Hemmschwelle groß, überhaupt die Museen zu betreten: „Sie erleben sie wie Regierungsgebäude, die nichts mit ihrem Leben zu tun haben.“  Ihre Arbeit zielt deshalb auf die aktive Einbindung verschie-denster Communitys: "Ihre Diversität schafft die Identität des Museums – anstatt dass das Museum sich eine Identität zulegt, die es vermarktet". Auf diese Weise könnte es tatsächlich zum "Powerhouse" werden – in dem Sinne, wie Hartmut Dorgerloh es versteht, der Generalintendant des Humboldt-Forums: „Ein Ort, der die Menschen empowert“.

Museen und Unterhaltung: Auch Museen sollten Geschichten erzählen

Womöglich müssen die Museen auch schlicht unterhaltsamer werden, um für Besucherinnen und Besucher attraktiver zu werden? Gerade in Deutschland, wo im Kulturbereich so sorgsam zwischen "E" und "U" getrennt wird und Bildung meist harte geistige Arbeit meint, eine fast schon provozie-rende Frage. Robin Reardon – als Portfolio Executive Producer bei Walt Disney Imagineering für Themenparks verantwortlich – sieht es anders. Auch Museen sollten Geschichten erzählen – weil "eine gut erzählte Geschichte den Unterschied bedeutet zwischen Erinnern und Vergessen, Interesse und Gleichgültigkeit". Auch Tim Reeve, Geschäftsführer des Victoria & Albert Museums in London, sieht keinen Widerspruch in der Verbindung von Entertainment und Wissenstransfer. Das Museum ist in seinen Augen ein Ort für "ernsthafte Debatten und Eskapismus" gleichermaßen.

Wie schwierig es sein kann, überhaupt Menschen ins Museum zu bewegen, hat Marie-Cécile Zinsou, Präsidentin der Fondation Zinsou, in Benin erfahren. Erst als sie anfing, im wahrsten Sinne auf ihre Nachbarschaft zuzugehen – unter anderem mit Ausstellungen auf einer belebten Straße – konnte sie für ihr Haus als "Ort des Vergnügens" werben. In den vergangenen 15 Jahren hatte das Museum 6,5 Millionen Besucher. Zinsou adressiert explizit auch junge Zielgruppen – mit Suchspielen in Basquiat-Gemälden beispielsweise. Was an den Trend anknüpft, den auch viele westliche Institutionen für sich entdeckt haben: die Gamification des Museums, die es etwa ermöglicht, in den virtuellen Dialog mit Ausstellungsobjekten zu treten.

Pi Li, leitender Kurator am Museum of Visual Culture M+ in Hongkong, verweist allerdings zu Recht darauf, dass Entertainment nicht gleichbedeutend ist mit wachsender Vermarktung. Expan-dierende Museumsshops, international tourende Ausstellungen und sogenannte "Blockbuster Shows" sieht er – wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen – als Zukunftsmodell infrage gestellt.

Museen und Architektur: Flexibel, ressourcenbewusst und innovativ

Die Pandemie könnte den Museen in vielerlei Hinsicht Grenzen setzen. Nicht zuletzt ökonomische. So wertvoll ikonische Bauten wie das Guggenheim Museum Bilbao als Tourismusmagneten bis dato für Städte waren, so offensichtlich ist durch Lockdown und ausbleibenden Reiseverkehr vielerorts auch geworden, welche fatalen Abhängigkeiten von stetig steigenden Besucherzahlen nebst ihrer umweltbelastenden Effekte geschaffen worden sind.

"Die Mega-Museen in den Metropolen sind dabei dramatischer betroffen als kleinere Einrichtungen mit lokaler Anbindung", stellt Bice Curiger fest, Künstlerische Direktorin der Fondation Vincent Van Gogh in Arles, Frankreich. Vielleicht, folgert sie, könnten die Großen von den Kleinen lernen, wie sich attraktive Programme gestalten lassen, die weder viel Raum, noch prominente Architektur benötigten. Womöglich ist die Krise für Städte mit wachsender Kommerzialisierung und Gentrifizierung eine Chance, Museumsraum grundsätzlich anders zu denken: als soziale Orte und Plätze der Zusammenkunft.

Selbst Sir David Chipperfield –Architekt einer Reihe prominenter Museen, darunter zuletzt die James-Simon-Galerie in Berlin – glaubt, dass in Zukunft anders und weniger gebaut wird. "Mehr aus dem machen, was vorhanden ist, flexibler und ressourcenbewusster sein, innovativer mit den Räumen und Gebäuden umgehen", gibt er als Maxime aus.

Wie wichtig die Museen aber als physisch erlebbare Orte auch in Zeiten virtueller Ausstellungen bleiben, das betont Louisa Hutton, Architektin und Gründungspartnerin von Sauerbruch Hutton. "Die erinnernswerten Atmosphären spezifischer Museums-Architekturen", so Hutton, schrieben sich in die Körper ein – im Gegensatz zur flüchtigen Erfahrung des Digitalen.

Als ein Beispiel herausragender Museumsgestaltung für die Gegenwart und Zukunft nennt der briti-sche Architekt David Adjaye das "National Museum of African American History and Culture" in Washington. Einen Bau, der in seiner Form auf den Kristallpalast des 19. Jahrhunderts Bezug nimmt – als postkoloniales Museum jedoch "ein Narrativ schafft, das es den Menschen erlaubt, sich selbst im 21. Jahrhundert zu verorten".

Museen und Misserfolg: "Wer Angst hat zu scheitern, wird nichts schaffen."

Der fünfte und finale Tag dieses zweiten Martin Roth Symposiums, der analog in den Räumen des Museums für Naturkunde in Berlin stattfand, war zum einen der Vertiefung der vorangegangenen Diskussionen gewidmet. In Workshops konnten die Teilnehmenden die Fragen nach Zukunft, Macht, Entertainment und Architektur gemeinsam weiterdenken.

Zudem stand aber auch ein Thema auf dem Programm, das wohl die meisten Direktorinnen und Direktoren, Kuratorinnen und Kuratoren auf den ersten Blick zurückschrecken lassen dürfte: "Museen und Misserfolg". Wobei freilich auch für die Museumsarbeit gilt, was die britische Produzentin Lucy Darwin (unter anderem der Dokumentation "Lost in La Mancha") als Credo für alle künstlerischen Unternehmungen formuliert: "Wer Angst hat zu scheitern, wird gar nichts schaffen".

Im Zentrum dieses Tages steht die kritische Selbstreflexion der Institutionen. Zugespitzt etwa im Statement von Małgorzata Ludwisiak, freie Kunstkritikerin und Kuratorin aus Polen, die den Museen attestiert, eher Teil des Problems als der Lösung zu sein – durch die Kapitalflüsse, die sie in Gang setzen, die Produktionslogiken, die sie perpetuieren, die C02-Abdrücke, die sie mit Reisen und Wanderausstellungen hinterlassen. "Downsizing" fordert Ludwisiak, ein Bewusstmachen der eige-nen blinden Flecken und Verstrickungen.

Letzteres war auch der Anspruch, mit dem Inés de Castro als Direktorin des Linden-Museums Stuttgart – Staatliches Museum für Völkerkunde angetreten ist. Die Frage war, ob sich die überkommene Struktur einer ethnografischen Sammlung in eine postkoloniale, für die Gegenwart relevante Richtung wenden lässt. "Wir können uns nicht von unserer Vergangenheit lösen – aber wir können neu denken", gibt sie als Antwort. Das lässt an das Natural Museum of History in London denken, dass sich zur Aufgabe gemacht hat, "die nächste Generation von Klimaaktivistinnen und -aktivisten hervorzubringen".

Am Ende heißt es wiederum "Back to the Future". Das abschließende Panel bündelt noch einmal die Herausforderungen, vor denen die Museen stehen bei ihrer Suche nach "neuen Narrativen und neuen Objekten, so der Generalsekretär des ifa, Ronald Grätz. Andreas Görgen, Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt, ruft in Erinnerung, dass es auf die globalen Fra-gen, die das MaRS auf die Agenda gesetzt hat, keine nationalen Antworten geben kann und wird. Und Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, empfiehlt den Museen den Begriff "Zugänglichkeit" als oberste Maxime. "Für Martin Roth", sagt Ackermann, "war das ein Schlüsselwort".

Stimmen vom zweiten Martin-Roth-Symposium: "MuseumFutures"