Amira El Ahl:
Hallo und herzlich willkommen zu dieser neuen Episode von "Die Kulturmittler:innen", dem ifa-Podcast zur Außenkulturpolitik. Mein Name ist Amira El Ahl und ich freue mich sehr, dass Sie wieder mit dabei sind. Ohne fundiertes Wissen über Länder, Regionen und ihre Kulturen drohen Fehlinterpretationen.
Im Urlaub sind diese Missverständnisse meist einfach ausgeräumt, aber bei politischen Entscheidungen, die oft unter großem Zeitdruck getroffen werden, können diese Fehlinterpretationen weitreichende Folgen für die Außen- und Sicherheitspolitik haben. Genau um dies zu verhindern, gibt es Regionalexpertise. Aber wie sorgen wir dafür, dass politisches Handeln auf diesem Wissen basiert und dass Strukturen, die dieses Wissen fördern und bewahren, nachhaltig unterstützt werden? Darüber spreche ich heute mit Matthias Middell.
Er ist Professor für Kulturgeschichte am Global and European Studies Institute und Prorektor für Campusentwicklung, Kooperation und Internationalisierung der Universität Leipzig. Dort hat er auch mit Kollegen des Fach "Global Studies" gegründet und seit Juni 2025 ist er zudem stellvertretender Direktor des Leipzig Research Center Global Dynamics. In dieser Folge sprechen wir unter anderem über die Frankophonie.
Diese zeigt, warum Kenntnisse über Kultur, Geschichte und Politik einer Region nicht nur akademisch interessant, sondern praktisch unverzichtbar sind, um internationale Kooperationen erfolgreich zu gestalten und Risiken realistisch einzuschätzen. Dabei stützt sich Herr Middell auf aktuelle Forschungsergebnisse aus dem ifa-Forschungsprogramm Kultur und Außenpolitik. Herr Middell, herzlich willkommen bei "Die Kulturmittler:innen".
Matthias Middell:
Ja freut mich sehr, guten Tag.
Amira El Ahl:
Vielleicht erst mal die Basics. Was verstehen Sie unter Regionalwissen? Also was können wir uns darunter vorstellen?
Matthias Middell:
Der Begriff hat eine längere Geschichte, geht zurück auf das 18. Jahrhundert, als man größere Teile der Welt entdeckte, sich mit ihnen verband, sich dafür interessierte, wie es in anderen Weltteilen politisch, ökonomisch und so weiter zugeht. Und daraus ist dann auch die Produktion von Wissen über diese fernen Regionen im Rahmen der Aufklärung der Enzyklopädien und so weiter entstanden. Und dann ist das im 19. Jahrhundert sehr langsam zu einem universitären Fachgebiet geworden, das natürlich eng damit verbunden war, dass im 19. Jahrhundert der Kolonialismus ausgegriffen hat. Man hat also Regionalwissenschaft im Wesentlichen betrieben, um sich darüber zu informieren, wie es in den eigenen Kolonien aussieht oder in den Kolonien konkurrierender Mächte.
Deshalb ist dieses Regionalwissen zunächst auch in Europa sehr stark produziert worden. Und daraus hat sich dann verschiedene akademische Disziplinen entwickelt – von Sinologie bis Afrikanistik – am Anfang sehr stark auf Sprache konzentriert, aber dann natürlich auch auf die Aufnahme von geografischer Kenntnis und von ökonomischer und politischer Information.
Das ist im 20. Jahrhundert dann unter Druck geraten, als die USA auf die Weltbühne getreten sind und nicht mehr aus dieser kolonialen Erfahrung heraus Regionalwissen produziert haben und dafür auch einen eigenen Begriff "Area Studies" eingeführt haben, der häufig verwechselt wird, weil er so aussieht, als sei es die Übersetzung. Aber gemeint ist etwas durchaus anderes, nämlich die Untersuchung von Weltabschnitten, die im Ergebnis der beiden Weltkriege interessant geworden sind für die System Auseinandersetzung, dann nach 1945 vor allem mit der Sowjetunion. Und insofern löst sich das Regionalwissen in den Area Studies dann ein bisschen ab von den kolonialen Zusammenhängen, die es etwa im französischen, britischen oder auch deutschen Kontext gehabt hat.
Amira El Ahl:
In dem Zusammenhang finde ich ganz interessant, dass Sie in Ihrer Studie von "Weltwissen" sprechen. Warum haben Sie diesen Begriff gewählt?
Matthias Middell:
Weil wir glauben, dass weder diese alten Regionalstudien mit ihrem kolonialen Ballast noch die Area Studies mit ihrer Bindung an die Konstellation des Kalten Krieges heute noch wirklich eine angemessene Form sind, Wissen über die Welt zu repräsentieren. Das hat ganz wesentlich mit dem Paradigmenwechsel zu tun, der in den 1990er Jahren durchgesetzt worden ist und der Globalisierung zum Leitbegriff gemacht hat. Und die Frage, die damit zusammenhängt, ist nicht mehr: Was wissen wir über einzelne Regionen? Und wofür ist dieses Wissen über einzelne Regionen für uns wichtig? Sondern sich eben die Frage stellt, wie die verschiedenen Regionen miteinander zusammenhängen und wie diese Interaktion der Regionen auch unsere Positionierung in dieser Welt beeinflussen.
Deshalb muss man heute eben nicht nur etwas über China oder über die USA oder über Australien wissen, sondern über die Weltzusammenhänge, in denen diese Regionen stehen. Anders wird man sich da auch nicht in dieser Welt verorten können.
Amira El Ahl:
Das heißt, wie beeinflusst ein Verständnis von diesen verschiedenen Dingen, die Sie auch gerade angesprochen haben – Sprache, Geschichte, Kultur, also diese ganzen einzelnen Expertisen – politische Arbeit und auch internationale Zusammenarbeit? Also das Wissen von all dem.
Matthias Middell:
Naja, hier ist eben das große Problem, vor dem wir stehen und auf das wir versuchen, mit diesem Begriff des "Weltwissens" ein bisschen zu reagieren. Selbstverständlich müssen Sie, um den Krieg zwischen Russland und der Ukraine einschätzen zu können, Osteuropaexperte sein. Müssen sehr viel über die Sprache, Geschichte und Kultur der verschiedenen Subregionen des östlichen Europas und dann auch des russischen Imperiums wissen. Das war immer selbstverständlich, das war die Leitidee der Regionalstudien.
Und dann stellen Sie auf einmal fest, dass die Frage, wie Russland diesen Krieg führt, ganz eng zu tun hat mit dem Bedarf an Öl in Indien oder mit dem Bedarf an Lebensmitteln im Nordafrika. Und auf einmal nützen Ihnen Ihre russisch- und ukrainischen Kenntnisse eigentlich vergleichsweise wenig, sondern Sie müssen den Zusammenhang zu anderen Regionen gleichzeitig mit im Blick haben. Das ist für akademische Karrieren eine extreme Herausforderung, weil die Zahl der Sprachen, die man im Laufe eines Lebens lernen kann, offenkundig begrenzt ist. Die Zahl der Regionen, in denen man verankert sein kann, in denen man sich wirklich gut auskennt, begrenzt ist.
Deswegen gibt es auch eine Resistenz aus den Regionalstudien heraus gegen diese Idee des Weltwissens, weil man sagt, das hängt zusammen mit einer Deprofessionalisierung. Alles das, was für uns bisher wichtig war, nämlich perfekte Sprachkenntnisse, lange Immersion in die jeweilige Region, all das wird da ein Stück weit entwertet. Und der Vorwurf ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen.
Aber gleichzeitig macht es eben auch gar keinen Sinn, den russischen Erfolg in Anführungszeichen verstehen zu wollen ohne diese indische oder nordafrikanische Komponente oder die brasilianische oder was immer wir hinzunehme. Und damit wächst der Druck vor allen Dingen auch auf jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sich andere Kompetenzen noch anzueignen.
Amira El Ahl:
Aber ist es da nicht interessant – Entschuldigung, dass ich da reingrätsche – aber diese verschiedenen Kompetenzen zu verzahnen? Also natürlich wird man immer eine Expertise haben, sei es die Sprache und Kultur, aber eben nur für eine bestimmte Region und dass man die sozusagen dann eben bündelt. Ist das nicht auch die Idee, dass man sagt, man bringt unterschiedliche Expertisen, unterschiedliche Experten zusammen?
Matthias Middell:
Natürlich ist das von außen betrachtet das Ideal. Also die Erzeugung von eierlegenden Wollmilchsäuen ist jeweils das, was alle Kunden gewissermaßen haben wollen. Wenn sie es aber mal umkehren und aus der Perspektive eines jungen Menschen, der in diesen Fächern Karriere machen möchte, betrachten, dann ist das ganz schön anstrengend und anforderungsreich. Wir haben vor 15 Jahren ein Zentrum für Area Studies gegründet damals noch, in dem wir gesagt haben, wir nehmen nur Leute auf, die über eine andere Region sich habilitieren wollen, als sie promoviert haben.
Und jetzt mal abgesehen von der Frage, wie viele Sprachen man dann lernen muss und in wie viele verschiedene Regionen man reisen muss, war schon die Frage, was kann ich damit eigentlich werden? Wo sind denn die Professuren außerhalb der eng regional definierten Fächer? Wo gibt es denn die Professuren für transregionale Studien? Das hat sich in den letzten 15 Jahren ein ganz kleines bisschen gebessert, weil der Bedarf an solchem Wissen eklatant ist und wächst. Aber es ist immer noch, wenn sie die Zahl der Professuren sich anschauen, viel einfacher, ihr Leben lang mit einer Sprache und mit einer Region umzugehen, als wenn sie sich auf zwei spezialisieren und dann von den Experten, ich sag mal der Sinologie, doch als nicht ganz zum Stammgehörig betrachtet werden, weil sie sich nebenbei auch noch mit Lateinamerika beschäftigt haben. Wie gesagt, das ist im Fluss, das ist in Veränderungen, der Begriff des Weltwissens versucht genau, diese Veränderungen abzubilden. Aber Veränderungen haben den Nachteil, dass sie noch nicht abgeschlossen sind.
Amira El Ahl:
Dann gehen wir noch mal dahin, was passiert, welche Risiken entstehen, wenn Politik ohne fundiertes Regionalwissen agiert? Können Sie vielleicht Beispiele nennen, wie es hilft, eben solche Fehlinterpretationen zu vermeiden oder Verhandlungen effektiver zu gestalten?
Matthias Middell:
Die Frage beantwortet sich ja quasi selbst, was passiert, wenn man ohne fundiertes Regionalwissen mit anderen Leuten redet. Darüber müssen wir jetzt nicht besonders lange diskutieren, wenn Sie die Sprache des anderen gar nicht verstehen, wenn Sie die Assoziationen, die der Verhandlungspartner im Kopf hat, nicht nachvollziehen können, dann werden Sie keine erfolgreiche Verhandlung führen können.
Die viel spannendere Frage ist, was eigentlich das Wort "fundiert" in Ihrer Frage bedeutet. Welches Wissen möchte denn Politik, wenn sie von fundiertem Wissen spricht? Angenehmes Wissen? Also Wissen, das die eigene Position auch ein Stück weit bestärkt? Oder möchte sie zuverlässiges Wissen? Also Wissen, das schon ein bisschen gereift ist und in der Diskussion auch schon bestätigt worden ist? Das vielleicht auch die Vorurteilsstruktur eines Politikers, der vor 20 Jahren das letzte Mal etwas Neues über diese Region gelernt hat, bestätigt? Oder ganz innovatives Wissen, das noch strittig ist, das noch roh ist, dass erst noch der Bestätigung sowohl innerhalb der akademischen Community oder auch innerhalb der Gesellschaft bedarf? Oder ist es Wissen, dass für genau diesen Zweck nachvollziehbar ist? Ich möchte also etwas erreichen und dafür soll jetzt bitte Wissen geliefert werden?
Das sind ganz unterschiedliche Anforderungen und ich gebe sofort zu, dass akademische Akteure nicht immer perfekt sind im Erkennen, welches Wissen von ihnen da gerade verlangt wird. Und einfach das Wissen raus plaudern, was sie eben haben und was sie im Forschungsprozess erzielt haben und dann ein bisschen irritiert sind, dass die Politik mit diesem Wissen in diesem Moment und für diesen Zweck gerade gar nichts anfangen kann. Und dann gibt es so Reaktionen, dass Akademikerinnen und Akademiker sagen, die hören nicht richtig auf uns. Na selbstverständlich, die hatten nämlich eine andere Frage gestellt und die hat man nicht sofort erkannt.
Also das mit dem fundierten Wissen ist gewissermaßen ein Schleier, den sie vor diese Unterschiede ziehen und der es so erscheinen lässt, als seien wir uns völlig darüber einig, welches Wissen hier gerade gefragt ist und das ist eben überhaupt nicht der Fall. Und natürlich ist ein Vertreter der politischen Klasse in anderen normativen Vorstellungen unterwegs als ein Unternehmer oder ein Kulturakteur dieser oder jener Prägung und jeder fragt nach anderem Wissen und erwartet eigentlich etwas für ihn oder sie Passendes, Bestätigendes und findet es eher ärgerlich, wenn dieses Wissen widerspenstig daherkommt.
Amira El Ahl:
Nicht so, wie man es gerne hätte.
Sie hatten ja schon angesprochen, dass eben sozusagen das aus dem Kolonialismus entstanden ist, aber dann eben im 20. Jahrhundert durch die USA mit den Area Studies sich verändert hat. Wie steht es denn um die Regionalwissenschaft in Deutschland? Also wenn Sie es vergleichen, welche Trends und Kompetenzen gibt es oder zeichnen sich hier ab? Wie unterscheiden sich die international – also im Vergleich zu den europäischen Partnern wie Frankreich und Italien auch Kolonialmächte – große Kolonialmächte? Aber eben auch im Vergleich zu den neuen Großmächten China, den USA? Also, wie stehen wir da im Vergleich? Kann man das überhaupt messen?
Matthias Middell:
Das wird sehr unterschiedlich beurteilt. Ich würde an sich eher einen optimistischen Blick auf diese Situation werfen. Manche meiner Kollegen und Kolleginnen sind da skeptischer und sagen, hier ist die Professur gestrichen worden und da ist jenes Institut geschlossen worden. Aber die Zahl dieser Schließungen ist vergleichsweise gering, vor allen Dingen im Vergleich mit anderen auch europäischen Ländern.
Es gab sagen Anfang der 2000er Jahre ein Art Krisenmoment, in dem der Wissenschaftsrat eine Studie beauftragt hat, zum Zustand damals der Regionalstudien und die Studie war inspiriert von dem Gedanken, wir liegen weit hinter den USA zurück, deren Area Studie Programme sind erfolgreicher, interdisziplinärer, politisch eingreifender und was man sich sonst noch so alles an Erfolgsfaktoren für Regionalwissen vorgestellt hat.
Im Ergebnis dieser Studie ist dann erst mal überhaupt eine Bilanz entstanden, wie viele Leute in diesem Feld unterwegs sind, welche Standorte da interessant sind und dann hat man ein Förderprogramm des BMBF aufgelegt, also des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das über jetzt fast 20 Jahre gelaufen ist, jetzt beendet wird. Und das hat große Effekte und unsere Studie über Weltwissen in Deutschland versucht diesen Effekt zu messen und was wir sehen können, ist zunächst mal eine Zunahme der Zahl der Forschenden und speziell auch der Lehrenden in diesen Gebieten.
Zweitens eine Konzentration auf weniger Standorte, an denen mehr Regionen am selben Standort miteinander in Interaktion treten. Das was sie am Anfang auch sozusagen unterstellt hatten, dass es wohl ein notwendiger Trend sein könnte. Und drittens die Stabilisierung bestimmter Forschungsfelder und Lehrgebiete an einzelnen Standorten, in denen es gelungen ist, die temporäre, also meistens auf drei oder fünf Jahre gewährte finanzielle Förderung in dauerhafte Lehrgebiete umzuwandeln.
Wir sehen auf der anderen Seite und da kommt das Negativ-Image dann ein bisschen zum Tragen, dort wo man sich ausschließlich auf die Forschungsförderung verlassen hat, sind die Strukturen auch relativ schnell wieder kleiner geworden. Also es ist die übliche Diskussion in Deutschland, weil viele Förderungen ja vom Bund erfolgen, ob nun über das Ministerium oder über die DFG [Deutsche Forschungsgemeinschaft] mit dem Ergebnis, dass die nur temporäre Positionen schaffen können. Dann werden tolle Sachen erforscht und dann sitzt jemand nach fünf Jahren sehr klug da, aber ohne Job. Und dem lässt sich nur entgehen, wenn sie das von der Logik der Bundesförderung, temporäre Forschungsförderung, in die Logik der Länder, nämlich der permanenten Ausbildungsfunktionen übertragen. Und das haben einige Universitäten sehr klug verstanden und gemacht und andere weniger.
Dadurch ist das Bild so ein bisschen gemischt. Um jetzt auf Ihre vergleichende Frage zu kommen, in der Zwischenzeit ist in den USA ziemlich dramatisches mit den Area Studies passiert – einmal durch 9/11, dann aber auch durch die verschiedenen Engagements der USA in Weltkrisen. Also einerseits ist der Bedarf an Weltwissen gestiegen, andererseits hat man dieses Weltwissen weniger in unabhängigen akademischen Institutionen verortet als in militärischen Abteilungen und Geheimdiensten, bis hin zu der Frage, wie man mit Widerstand in Afghanistan umgeht. Das ist eigentlich kein Thema mehr für die öffentliche Wissenschaft. Naja, und die jüngeren Beispiele der Präsidentschaft von Trump sind bekannt. Da gibt es Interventionen, das bitte nur noch angenehmes Weltwissen produziert werden soll.
Amira El Ahl:
Trump-angenehmes Weltwissen.
Matthias Middell:
Ja, ich weiß das immer gar nicht, ob der das alles persönlich liest oder ob da nicht noch ein paar andere dabei sind, die diese Kriterien der Beurteilung anlegen. Aber der Kern ist natürlich, dass politische Urteile und Voreingenommenheiten bei der Beurteilung von akademischen Einrichtungen eine größere Rolle spielen. Und das führt zu Selbstzensur, Einschränkung der Arbeit und so weiter.
Wir sehen nach wie vor in Frankreich und Großbritannien eine umfangreiche Weltwissen Produktion, die aber schrumpft, die nachlässt, weil die öffentlichen Mittel dafür nicht im vergleichbaren Maße wie in Deutschland zur Verfügung gestellt worden sind. Was ich sehr spannend finde, ist das Aufblühen einer Landschaft von Weltwissen-Produktion in Europa in vorher nicht Kolonialmächten in Afrika an einzelnen Universitäten gibt es jetzt ein hohes Interesse daran. Wer sind eigentlich diese Chinesen, die hier bei uns investieren? Welche Alternativen gibt es dazu in Malaysia, in Japan und so weiter? Also da entsteht eine Weltwissen-Produktion vor allen Dingen über Asien.
Und die gewaltigste Entwicklung, wenn man jetzt rein die Zahlen anschaut, passiert gerade in China. Dort hat die Führung, staatliche Führung des Bildungsministeriums aber auch die Partei, entschieden, dass Weltwissen künftig gebraucht wird und hat 165 Zentren im ganzen Land gegründet. Das ist natürlich jetzt mit allen Anfänger, Eierschalen behaftet, so schnell findet man gar nicht Leute für 165 Zentren. Was da passiert ist zum Teil methodisch auch noch nicht so, dass man jetzt sagen würde, das ist der Weltstandard. Aber man sieht das enorme Interesse und die Bereitschaft in die Produktion von solchem Wissen öffentliche Gelder zu investieren. Und das tut man ja nicht damit mehr Menschen irgendwie afrikanische Sprachen und Dialekte lernen, sondern in einer politischen und ökonomischen Absicht, die eben auch Spezialisten erzeugen soll für den Gang hinaus in die Welt – genauso wie das im Kolonialismus 19. Jahrhunderts in Europa der Fall war.
Amira El Ahl:
Das finde ich ganz interessant, vielleicht können wir nochmal, also Kolonialismus Europa nochmal vielleicht auf Frankreich zurückkommen. Sie sagen dass ist ja auch die Förderung zurückgegangen, aber trotzdem haben sie in ihrer Studie einen besonderen Blick auf die Frankophonie geworfen.
Vielleicht können wir das erst mal erklären, also diesen Begriff erklären. Was verstehen Sie unter Frankophonie?
Matthias Middell:
Also die Frankophonie ist zunächst mal der Raum, in dem Französisch gesprochen wird, so hat man das im späten 18. Jahrhundert angefangen zu definieren und hat dabei entdeckt, dass es Französischsprecher auch außerhalb Frankreichs gibt.
Das hat eben mit der kolonialen Expansion, mit dem Siedlertum in Kanada und Ähnlichem zu tun. Und die Frankophonie hat sich von dieser Gemeinschaft derer, die die französische Sprache teilen, so ist so die blumige Definition, hat sich nach 1961 schrittweise auch in eine internationale Organisation verwandelt. Das heißt, es gibt die frankophonie mit kleinem f, das ist die Sprachgemeinschaft, und es gibt die Frankophonie mit großem F. Das ist eine Organisation, so wie der Commonwealth oder die Europäische Union oder die Afrikanische Union, die mit den verschiedensten Attributen einer internationalen Organisation hantiert und inzwischen also von Fernsehsender, Radiosender, Parlamentarier treffen, Gipfel, natürlich alle zwei Jahre und so weiter, alle Attribute einer solchen internationalen Organisation aufheißt.
Amira El Ahl:
Und für mich interessant, dass da auch Staaten drin sind, die ich niemals mit sozusagen der französischen Sprache in Verbindung gebracht hätte, die also erst mal auf den ersten Blick nicht diese, also eine französische Kolonialgeschichte vielleicht mit sich bringen, aber auch nicht Französisch als erste oder zweite Sprache besprechen. Das finde ich auch sehr interessant.
Matthias Middell:
Also diese Frankophonie hat, wenn man so will, drei Besonderheiten:
Die eine, also wenn wir jetzt von dieser Organisation ausgehen, hat Mitgliedsländer, die zunächst mal wirklich aus dem französischen, kolonialen Kontext kamen, die Initiative lag bei vor allen Dingen afrikanischen Ländern. Ist dann aber im Laufe der Zeit attraktiv geworden für Länder, die nicht in andere Machtblöcke und Kulturblöcke hineingepasst haben. Und das ist besonders nach 1990 passiert, als Länder auf dem Balkan aus der Einflusszone Russlands, der Sowjetunion, herausfielen, aber nicht sofort in die EU konnten und sich gefragt haben, wo schließe ich mich jetzt an? Die Frankophonie ist immer gefeiert worden als ein Votingblock innerhalb der UN. Ökonomisch ist sie nicht ganz so stark, wenn man alles zusammenrechnet, aber sie hat diese Macht mit über 50, am Anfang jetzt über 60, Mitgliedstaaten eben doch in der UNO ein Viertel und bis ein Drittel der Stimmen zusammenzubringen.
Die zweite Besonderheit ist, hängt vor allen Dingen mit Québec zusammen, dass man nicht nur Staatenmitglieder hat, sondern auch Provinzen und Regionen von größeren Staaten, die eben Frankophon sind. Und insofern schleppt die Frankophonie auch immer dieses Charakteristikum mit, oh Gott, hier könnte Separatismus drohen. Also hier könnte jemand einen Staat sprengen, das finden manche weniger lustig als andere.
Und die dritte Besonderheit, die man natürlich auch mit anderen solchen Sprachkulturgemeinschaften teilt, aber die doch sehr wichtig ist, also auch für unser Projekt wichtig war, ist keine zusammenhängende Region. Diese Frankophonie zerrt sich also von Nordwesteuropa bis in den Pazifik, von Afrika bis nach Südostasien und so weiter. Und dabei spielt eben Zusammengehörigkeit aufgrund der Sprache in den Augen der Franzosen oder vieler Franzosen eine größere Rolle als für die anderen Mitglieder.
Amira El Ahl:
Ja, und ist das vielleicht auch ein Grund oder was ist der Grund dafür, dass sich die Frankophonie so gut eignet als Beispiel, um die Bedeutung von Regionalwissen zu verstehen?
Matthias Middell:
Sie eignet sich eben überhaupt nicht in einer bestimmten Perspektive. Das war genau der Grund, warum ich gesagt habe, darüber muss man mal was machen, denn diese Area Studies die kommen aus einer Tradition.
1943 überlegt man in den amerikanischen Geheimdiensten, wie man Regionalwissen erzeugen kann, entsprechend den Militärkommandos, die die amerikanische Armee damals hatte. Deswegen sind Areas immer zusammenhängende regionale Komplexe, bei denen die Amerikaner mit so einer gewissen Hemdsärmlichkeit unterstellt haben, dass die kulturell auch zusammengehören würden. Ja, ohne Rücksicht auf frühere oder aktuelle Konflikte. Und da gehört dann eben das sub-saharische Afrika zu einer großen Region oder China und Japan gehören in einen Topf und so weiter und so fort.
Und die Regionalwissensproduktion hat in den letzten 70 Jahren sich vollkommen diesem Paradigma verschrieben. Wir untersuchen zusammenhängende Räume und unterstellen eine gewisse kulturelle Homogenität in diesen Räumen oder so. Und diese Frankophonie passt da eben gar nicht rein.
Die ist völlig anders und ich habe dann einmal gesagt, wenn wir etwas über die heutige Welt wissen wollen, dann können wir nicht im Paradigma von 1945 weiterdenken, sondern müssen uns das angucken, was heute da so vorliegt. Und nun hat diese Frankophonie in den letzten drei bis fünf Jahren auch eine besondere Dynamik erlebt. Sie war lange zusammengehalten von dem Wunsch, vor allen Dingen der afrikanischen Mitgliedsstaaten, dass Frankreich eine Entwicklungspolitik in Afrika gewissermaßen als Kompensation für die koloniale Ausbeutung betreibe.
Also zunächst wollten die Franzosen in den 60er Jahren da gar nicht ran. Also [Charles] de Gaulle war sehr skeptisch gegen die Frankophonie. Und die afrikanischen Regierungschefs sind eher antichambrierend gegangen nach Paris und sagen, können wir bitte mal sowas haben wie eine Frankophonie, damit dann auch Geld fließt zu uns?
Nun, das hat sich jetzt in den letzten fünf Jahren ziemlich dramatisch verändert. Es gibt eine Reihe afrikanischen Länder, die gesagt haben, raus mit den Franzosen. Also vor allen Dingen in der Sahelzone, Mali, Niger, Chad usw. Das heißt, diese Frankophonie emanzipiert sich auch ein Stück von ihren Ursprüngen. Und mich hat besonders interessiert, was passiert jetzt, wenn der Begründungszusammenhang einer solchen Area, die nur nicht so räumlich kompakt ist, wenn der Begründungszusammenhang der koloniale und der kulturelle Begründungszusammenhang von doch wichtigen Mitgliedern bestritten wird.
Und Frankreich nicht wirklich in der Lage ist, ihn wieder zurückzubringen. Also die Franzosen haben ihre Armee zurückgezogen aus der Sahelzone. Sie haben nicht einen neuen Kolonialismus unternehmen können.
Und das finde ich ziemlich spannende Dynamiken, die mir natürlich das schreiben dieser Studie wahnsinnig schwer gemacht haben, weil jeden Tag irgendwas passiert ist, was man vorher nicht vorhergesehen hatte, sodass es mit dem Schreiben irgendwie doch etwas anstrengend wurde. Aber im Kern haben wir eine komische Situation. Da ist ein sehr historisch verankertes Projekt, ein Projekt, das von vielen Teilnehmern weitergetrieben werden will und geschätzt wird. Und das trotzdem eine Art Zerfall zeigt.
Und Frankreich reagiert darauf jetzt mit einer Strategie der Europäisierung dieses Projektes. Das fing damit an, dass man die Bindung des CFA-Franc – also der Währung, die in Westafrika und in Zentralafrika von den Franzosen eingeführt worden ist –, dass man die nicht mehr an die französische Zentralbank bindet, sondern an die europäische Zentralbank. Also im Prinzip gewährleisten Sie und ich mit dem Euro die Währungsstabilität in Westafrika mit, ohne dass sie das wissen und ohne dass Sie dazu wahrscheinlich je wirklich befragt wurden, sind.
So, das ist die eine Geschichte und das ging dann weiter mit Militäreinsätzen, bei denen doch auf die eine oder andere Weise auch die Bundeswehr mit involviert war und an einer Geschichte dran hing, von der sie, glaube ich, nicht besonders viel Ahnung hatte.
Amira El Ahl:
Ja, also ich glaube in Mali, ne?
Matthias Middell:
Ja, ja, so. Und dann musste sich die Bundeswehr auch zurückziehen, nachdem Franzosen da irgendwie nicht mehr so den Kredit hatten, und musste sich jetzt ja mit der Frage auseinandersetzen, wie ist denn uns das eigentlich geschehen? Und was passiert denn in Zukunft? Wir wollen das ja vielleicht nicht allein den russischen Söldnern, die da jetzt zugange sind, als Berater überlassen.
Wir wollen aber auch nicht, dass andere Weltmächte da jetzt einfach vordringen in diesem Raum. Und das finde ich eine hochinteressante Dynamik, die eben zeigt, dass Weltwissen nicht nur fundiert – also fundiert soll es sein –, aber das ist vor allem auch dann notwendig ist, wenn man gar nicht glaubt, dass es notwendig ist. Und wenn man auf etwas zurückgreifen muss, was vielleicht auch Vorrat produziert worden ist. Also für diese Frankophonie hat sich in Deutschland außer der Romanistik keine sehr große Gruppe von Menschen interessiert.
Amira El Ahl:
Okay, aber wenn wir jetzt mal gucken, also nochmal zurückgehen auf Deutschland. Deutsch wird natürlich nicht wie Französisch in so vielen Ländern der Welt gesprochen, also in relativ wenig Ländern der Welt. Können wir trotzdem aus der Frankophonie etwas für Deutschland lernen? Also gerade auch mit den Aspekten, die Sie gerade angesprochen haben, dass man sozusagen auch reingezogen wird in Dinge, die man erstmal gar nicht wollte, konnte wie auch immer.
Also wie kann man aus diesen Dingen lernen? Und ja, wie kann Deutschland seine regionale Expertise stärken, auch vielleicht mit diesem Manko, dass man ja eigentlich die Sprache erstmal nicht in so vielen Ländern gesprochen wird?
Matthias Middell:
Naja, es sind verschiedene Aspekte. Der eine ist sehr trivial, solange wir das europäische Projekt auf die deutsch-französische Beziehung ganz stark gründen – und ich hoffe, dass wir das noch viele, viele Jahrzehnte tun – sind wir einfach in diese Geschichten mit involviert, ob wir es wollen oder nicht. Und dazu müssen wir sie zumindest kennen.
Wir können also nicht einfach sagen, das ist Frankreich, das interessiert uns nicht weiter. Sondern wir müssen uns für die Verstrickungen, für die kolonialen Verstrickungen, für die kulturellen Implikationen, für die Zivilisierungsmission, die viele Franzosen immer noch heute antreibt, müssen wir uns interessieren. Erster Punkt.
Zweiter Punkt, da drin stecken eine Reihe von für uns interessanter Gesichtspunkte, die wir ja auch aufgegriffen haben. Kolonialismus hat sich dann gewandelt von der reinen Machtprojektion in die Kolonien hin zu einer Kulturtätigkeit. Also die Alliances Françaises war sicher auch ein Vorbild für das, was wir machen mit Kulturpolitik im Ausland. Und ob die jetzt in Deutsch oder Englisch oder Französisch oder Indonesisch stattfindet, das ist gar nicht so erheblich.
Aber da haben wir auch eine Gemeinsamkeit mit Frankreich. Die dritte Frage ist, wie gehen wir mit dem Erbe des Kolonialismus um? Offenkundig wird die künftige Weltordnung sehr stark davon abhängen, wer für welches Publikum eine glaubwürdige Erzählung des Umgangs mit der kolonialen Vergangenheit schafft. Das sehen wir im Nahen Osten, das sehen wir in Lateinamerika, das sehen wir natürlich in Afrika und so weiter.
Und Deutschland hat da eine spezielle Geschichte, weil wir die Kolonien schon in 1918 verloren haben, aber dann ja durchaus auch teilgenommen haben an paternalistischen Diskursen gegenüber Afrika und anderen Teilen der Welt, die aus kolonialen Kontexten kamen. Von denen müssen wir uns vielleicht verabschieden, also das wäre so eine andere Lehre. Und dann ist eben auch die Frage, wie verhalten wir uns zu der extrem ambitionierten Machtpolitik Frankreichs, die nicht untersetzt ist durch entsprechende Mittel?
Amira El Ahl:
Mittel heißt finanzielle Mittel?
Matthias Middell:
Militärische, finanzielle, insgesamt ökonomische Macht. Wir haben ja in Deutschland keine wirkliche Tradition über Machtausübung im globalen Kontext nachzudenken seit 1945. Davor schon erheblich und unangenehm.
Aber was machen wir jetzt? Wie verhalten wir uns jetzt in Zukunft? Welche Rolle wollen wir in Nahen Osten spielen? Welche Rolle wollen wir in Osteuropa spielen und so weiter? Und tun wir das mit einem französischen Offizier an der Seite, der ganz andere Vorstellungen von dieser Art von Machtausübung hat? Wie geht das? Was entsteht da eine gemeinsame europäische Kultur? Also das sind so Dinge, wo ich glaube, dass dieses Frankophonie-Thema eine lange Liste eigentlich von konkreten Lernobjekten bereithält.
Sie hatten ja mal gefragt, wie das in Deutschland mit der Regionalexpertise insgesamt aussieht.
Amira El Ahl:
Ja genau, also was wird das da schon getan? Also wenn auch auf das, was Sie gerade gesagt haben, also gibt es irgendwie Förderprogramme? Gibt es irgendwelche internationalen Kooperationen oder auch politische Steuerungsinstrumente, die Sie für sinnvoll halten, die es schon gibt oder die es noch geben sollte?
Matthias Middell:
Also es ist ganz klar, die Förderprogramme zumindest hat es gegeben bis vor kurzem. Diese 20-jährige Offensive des BMBF [Bundesministerium für Bildung und Forschung] zur Stärkung der Regionalwissenschaften war extrem fruchtbar.
Es gibt eine Reihe von außeruniversitären Instituten, die direkt politikberatend tätig sind in diesem Bereich. Also grundsätzlich ist die Einsicht, dass man so etwas braucht, da. Jetzt ist die Frage, welches Wissen soll es sein? Da ist immer wieder die Aufforderung, es soll praktisch verwertbares Wissen sein. Das hat mit dieser Transferorientierung usw. zu tun. Und dagegen war man vor 20 Jahren noch etwas klüger, weil man mit dem Begriff des Vorratswissens operiert hat.
Amira El Ahl:
Heißt?
Matthias Middell:
Heißt, Sie können nicht voraussagen, dass morgen ein Konflikt im Sudan für uns relevant wird. Es sollte das aber der Fall sein, dann werden Sie nicht innerhalb von 24 Stunden die Wissensproduktion über den Sudan ankurbeln können. Das heißt, Sie müssen auf Vorrat Wissen über den Sudan erzeugen, wie soll ich sagen, in der Hoffnung, dass da eine Krise ausbricht oder in der Hoffnung, dass dieses Wissen eigentlich nicht gebraucht wird oder nicht in dem Umfang gebraucht wird.
So, das meint Vorratwissen dafür Strukturen zu unterhalten. Und das ist natürlich irrsinnig teuer für 204 Länder auf der Welt. Deswegen muss man das effektiv organisieren.
Ich glaube, dafür Geld zur Verfügung zu stellen, lohnt sich. Diese effektive Organisation betrifft etwa Zentren, in denen mehrere Regionen gemeinsam untersucht werden, in denen man von der Betrachtung eines Konflikts in der Sahelzone vielleicht auch Schlussfolgerungen für die Entwicklung im Sudan ziehen kann. Die absolute Basis sind Studiengänge, in denen die Leute erstmal ordentlich Fremdsprachen lernen.
Der Traum, dass das alles irgendwie so geht, dass man den Konfliktparteien ein Google Translator unter die Nase hält, ist wahrscheinlich nicht wirklich zielführend. Also, da müssen junge Leute dafür begeistert werden, gewonnen werden, ordentlich ausgebildet werden, natürlich internationale Karrieren machen. Also die dürfen nicht bloß hier sitzen und sich vorstellen, wie der Sudan aussieht. Sondern die müssen auch mal dort gewesen sein und vielleicht auch mal in den USA an einem Zentrum für Sudanforschung oder in China oder wo auch immer.
Das sind so die Anforderungen und im Moment habe ich das Gefühl, ist das Thema ein bisschen in den Hintergrund getreten, weil wir so okkupiert waren von diesem Nahost-Konflikt. Das ist eigentlich nur noch um die Frage, was hat anti- und pro-palästinensische sowie anti- und pro-israelische Proteste mit der deutschen Gesellschaft zu tun? Das ist ein Konflikt unter mehreren. Und es wird ja häufig jetzt in Kommentaren zu der erfreulichen Entwicklung im Gaza-Streifen gesagt: Ja, und jetzt müsste man sich auch dem anderen Konflikt in der Ukraine zuwenden und so. Das bedeutet, es kommt ja mindestens als Diskurselement auf, dass diese Konflikte irgendeinen Zusammenhang haben. Und damit wäre man ja schon fast auf dem richtigen Wege, was die Anforderungen an das Wissen angeht.
Aber ich gebe Ihnen sofort zu, dass es mehr Hoffen und Pfeifen im Wald. Im Moment sieht es so aus, als hätten wir noch nicht unsere Hausaufgaben gemacht und zusammengezählt, was für Wissen wir brauchen. Ich will nur ein einziges Beispiel nennen. Alle sind sich einig, seit Obama das 2011, glaube ich, formuliert hat, dass das pazifische Jahrhundert vor uns steht. Wir wissen, dass wir nach dem NATO-Beistandspakt wahrscheinlich auch unser Ruderboot rausholen müssten und in den Pazifik rudern, sollte es dort zu einem Angriff auf einen Verbündeten kommen. Das ist natürlich alles ziemlich lächerlich, wenn Sie sich anschauen, was wir über den Pazifikraum wissen.
Amira El Ahl:
Sehr wenig.
Matthias Middell:
Sehr wenig. Es gibt keine Professur Pacific Studies in Deutschland.
Amira El Ahl:
Keine Einzige.
Matthias Middell:
Keine Einzige. Es gibt kein größeres Forschungsprojekt zu diesem Raum, der natürlich in der Vergangenheit einfach aussah wie eine große Menge Wasser, der aber jetzt auf einmal strategisch so bedeutsam wird. So, und jetzt lassen Sie mal noch das Eis in der Nordpassage schmelzen und die Verbindung zu diesem Pazifik nördlich von Russland frei werden, was vermutlich absehbar ist, dann berührt uns das Thema auf einmal sehr eng.
Amira El Ahl:
Also mal ganz kurz zusammenfassend. Also zum einen, also weil Sie jetzt den Auskonflikt ansprachen, das wäre ja schon sinnvoll, wenn da tieferes Wissen vorhanden wäre, auch um eben solche Konflikte zu verstehen und dann auch zu lösen zu können. Auf allen anderen Ebenen natürlich auch, was in Sudan angeht, wo wir auch einen Riesenkonflikt haben, etc. Aber eben auch, was Sie gerade angedeutet haben mit dem Pazifik.
Also eigentlich müsste es doch viel mehr internationale Kooperation geben, um eben dieses Wissen zu vernetzen. Vermutlich. Also würde ich jetzt mal aus dem, was Sie gesagt haben, schließen. Aber auch, dass es sozusagen Thinktanks gibt, eben auch, was weiß ich, Stiftung Wissenschaft und Politik oder wie ist sie alle heißen, wo eben ja auch Wissen gebündelt ist, wo Experten sitzen zu verschiedenen Regionen, die dann aber sich natürlich auch austauschen. Also das ist doch sicherlich, das wären doch die sinnvollen Maßnahmen, oder nicht?
Matthias Middell:
Also die Internationalisierung ist ja gar kein Problem. Diese Leute sind in der Regel sehr international. Nur zum Vernetzen brauchen Sie immer mindestens einen auch hier. Wenn Sie den gar nicht haben, dann wird es auch nichts mit der Vernetzung. Und das Wissen über den Nahostkonflikt ist an sich jetzt nicht unterrepräsentiert in Deutschland.
Also wir haben Felder und Konflikte, über die wir relativ viel wissen, über die wir auch viele oder in deren Erforschung wir viele Ressourcen stecken. Und worauf ich aufmerksam machen möchte, ist, wir haben Felder, die haben wir weitestgehend ausgeblendet, für die haben wir keine Expertise. Und es könnte sein, dass diese Felder für uns demnächst ungefähr so relevant werden, wie Mali, Chad und Niger vor drei Jahren, als wir auch völlig überrascht waren, was da vor sich geht, weil niemand eine saubere Expertise für die Sahelzone im Lande hatte.
Und meine Prognose ist, dass uns das noch häufiger passieren wird, weil immer mehr solche Krisen auftreten. Und deshalb braucht es ein bisschen mehr als einfach nur so einen allgemeinen Aufruf zur Internationalisierung und zum Regionalwissen, sondern wir brauchen eine systematischere Wissensentwicklung. Das haben wir versucht mit diesem Begriff des Weltwissens zu adressieren. Und es ist eigentlich ein Aufruf an die Politik darüber zu reden, was braucht und will dieses Land.
Amira El Ahl:
Das heißt, das haben Sie auch so in der Studie formuliert und eben sozusagen auch gezeigt, was es für Lösungsansätze geben könnte und wie man dahin kommt, um eben genau diese Wissensvermittlungen auch herzustellen.
Matthias Middell:
Ob wir das so aufgeschrieben haben, dass es jeder versteht, der es nicht verstehen will, das kann ich nicht garantieren, aber dass wir es aufgeschrieben haben, wie wir es für notwendig halten. Ich glaube, das kann man schon guten Rechts behaupten.
Amira El Ahl:
Vielleicht noch zum Schluss gibt es irgendwelche Steuerungsinstrumente oder Projekte, wo Sie sagen, eigentlich sind die überhaupt nicht geeignet. Da pumpen wir Geld rein oder Energie, aber eigentlich bringen die uns nicht weiter.
Matthias Middell:
Das ist in der Wissenschaft schwierig zu sagen. Nicht weil es Kollegenbashing wäre oder so, sondern weil Sie es immer erst im Laufe eines Projektes oder am Ende eines Projektes wissen. Ich habe schon so viele Projekte gesehen, die ich auch skeptisch evaluiert habe. Die sind dann doch ins Leben getreten und haben ganz überraschend kluge Ergebnisse erzielt.
Wissenschaftsförderung ist Risiko eingehen. Da muss ich riskieren, dass etwas passiert, was ich nicht hundertprozentig vorhersehen kann. Insofern geht es nicht um das einzelne Projekt und den einzelnen Doktoranden, ob man den fördern soll oder nicht.
Es geht um das größere Feld, wie globalisierungstüchtig wir eigentlich sein wollen und werden wollen. Das schließt eben auch nicht nur eine militärische Kapazität oder sowas ein, sondern es schließt auch ein zuerkennen, wo gibt es gemeinsame Wirtschaftsinteressen? Wo gibt es eine Beziehung? Ich war vorige Woche in Vietnam, da ging es um Fachkräftegewinnerung. Das könnte man interpretieren, manche würden das in Afrika als Braindrain und neuen Kolonialismus sehen.
Für die vietnamesischen Partner war ganz klar, das ist ein Gewinn für uns, denn ihr qualifiziert unser Personal und es wird anschließend zu uns zurückkommen. Solche Anknüpfungspunkte für Kooperationen auf der anderen Seite zu erkennen, davon können sie eigentlich gar nicht genug haben, denn wir hängen hundertprozent davon ab, dass wir mit anderen zusammenarbeiten. Das hat mit der Rohstoffarmut dieses Landes zu tun.
Amira El Ahl:
Ja, das stimmt. Wir sind, es ist wichtig und vor allem, wie Sie sagen, systematische Wissensvermittlungen. Also ich bin sehr gespannt auf Ihre gesamte Studie, ich kann nur empfehlen Sie zu lesen.
Herr Middell, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und dass Sie uns Einblicke gegeben haben, das spannende Thema des Regionalwissens. Schön, dass Sie heute bei uns waren.
Matthias Middell:
Vielen Dank.
Amira El Ahl:
Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat und Sie noch mehr über Regionalwissen erfahren möchten, dann empfehle ich Ihnen die ifa-Studie "Die Produktion von Weltwissen in Deutschland und die Frankophonie" von Matthias Middell. Den Link zu unserem Themencluster Regionalwissen finden Sie in den Show Notes.
Falls Sie es noch nicht getan haben, dann abonnieren Sie doch gerne "Die Kulturmittler:innen", dann verpassen Sie auch keine der kommenden Folgen.
Den Podcast können Sie dort abonnieren, wo Sie gerade diese Episode hören, zum Beispiel bei Apple Podcast Deezer oder Spotify. Dort finden Sie auch weitere Episoden von den Kulturmittler:innen rund um die Themen der auswertigen Kultur- und Bildungspolitik. Noch mehr zum ifa und unseren Projekten erfahren Sie auch auf den Social-Media-Kanälen.
Auf Instagram finden Sie das Profil mit dem Handel @ifa.de und auf LinkedIn als ifa – Institut für Auslandsbeziehungen. Sollten Sie Fragen oder Hinweise zu den Kulturmittler:innen haben, dann schreiben Sie uns doch gerne eine E-Mail an podcast@ifa.de.
Damit verabschiede ich mich, mein Name ist Amira El Ahl, danke für’s Zuhören und bis zum nächsten Mal.