Theater als "Zufluchtsort"

Lyudmila Vitenko ist Anfang des Jahres aus der Ukraine geflohen. In diesem Beitrag spricht sie über ihre Zeit in Deutschland, ihre Liebe zum Theater und ihr Theaterprojekt mit dem Heyoka Theater.

Lyudmila Vitenko gründet in ihrer ukrainischen Heimatstadt Poltawa 2018 ein Amateurtheater, das zu einem der erfolgreichsten der Region wird. Der Krieg zwingt die Pädagogin, ihr Land zu verlassen. In Baden-Württemberg findet sie jedoch bald ein neues Zuhause – ein Theaterprojekt, das ihr vor allem in der Anfangszeit hilft, nicht "verrückt" zu werden.

Wenn sie Texte für die Bühne schrieb, mit ihren Schauspielkollegen probte und dann zusammen mit ihrem Sohn auf der Bühne stand, war Lyudmila Vitenko glücklich. Ihr Amateurtheater "Malafeya" ("Маленькая фея") hatte sich seit 2018 zu einem der erfolgreichsten im Raum Poltawa entwickelt, ihrer Heimatstadt 150 Kilometer südwestlich von Charkiw. Ihre Gruppe wurde immer professioneller und wuchs auf über 50 Erwachsene und Kinder an. "Ingenieure, Ärzte, Lehrer, ganz unterschiedliche Menschen gelangen in unser positives Umfeld und entwickelten sich schon nach ein, zwei Monaten", sagt Vitenko, die in "ihrem früheren Leben" Lehramt studiert und 17 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Museum gearbeitet hatte.

Amateurtheater "Malafeya" © Malafeya

Ein Großteil des Repertoires waren ukrainische Literaturklassiker, die sie für die Bühne adaptierte. "Oft sagten uns die Leute, dass sie die Bücher in der Schule langweilig fanden. Aber unsere modernen Inszenierungen gaben ihnen einen neuen Zugang und sie waren richtig begeistert", sagt sie, auch von den ungewöhnlichen Locations: In den Sommermonaten spielte das Laienkollektiv an Seen oder verlassenen Orten wie dem Gelände einer alten Nervenheilanstalt.

Pro Woche zwei Aufführungen mit je 250 Zuschauern. "Jede war sofort ausverkauft. Niemand konnte glauben, dass wir alle Laienschauspieler waren", sagt Vitenko mit heller Stimme. 2021 ermöglichte eine Förderung des Goethe-Instituts den Kauf von Licht- und Sound-Technik. "Wir hatten eine wunderbare materielle Basis und alles, um uns zu entfalten", erinnert sich die Pädagogin.

Wir haben uns einfach einen Rucksack geschnappt, Dokumente rein, in den Bus und los.

Am 24. Februar endet all das. Plötzlich dröhnen Sirenen rund um die Uhr. Die Nächte verbringt sie mit ihrem Sohn im Luftschutzbunker. Er hat eine neuronale Erkrankung, braucht täglich Medikamente, die nicht mehr zu bekommen sind. "Wir haben uns einfach einen Rucksack geschnappt, Dokumente rein, in den Bus und los", erinnert sie sich. Weil Vitenko Germanistik studiert hatte, steuert sie Deutschland an. Zufällig gelangt sie nach Weil der Stadt, wo sie 1991 Austauschschülerin war, und hat Glück: "Ich bin in eine unglaubliche Familie gekommen, die mir all die Möglichkeiten gab, mich zu entfalten und wohl zu fühlen."  

Nach zwei Wochen in der kleinen Stadt bei Stuttgart beginnt sie, ehrenamtlich in einer Schule vor Ort zu arbeiten. In Weil der Stadt sind mittlerweile 100 ukrainische Menschen, viele von ihnen Kinder, die sie in Integrationsklassen auf den Unterricht in Deutschland vorbereitet. Über das ifa lernt Vitenko bald Eva Ellerkamp kennen. Sie leitet in Ulm das Heyoka Theater, in dem Laienschauspieler und Profis, mit und ohne Behinderungen, spielen.

"Wir hatten sofort einen Draht zueinander. Sie erzählte mir von ihrem Projekt, einer Trilogie über Bienen, und bot mir an, mitzumachen", erinnert Lyudmila Vitenko sich an das erste Treffen im März. Gemeinsam schreiben sie daraufhin Szenen, in die Fragmente aus einem Werk des Ukrainers Oles Hontschar einfließen. Später werden sie bei den Aufführungen im Juni synchron aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.

Lyudmila Vitenko und ihr jüngerer Sohn in friedlichen Zeiten © Malafeya

Inna Kerusowa wirkt mit, eine Kollegin aus dem Schauspielkollektiv in Poltawa, sowie deren Sohn. Lyudmila Vitenkos und ihr Sohn übernehmen ebenfalls zwei Rollen, voller Stolz sagt sie über ihn: "Er fühlt sich auf der Bühne wie ein Fisch im Wasser", und ergänzt mit Trauer in der Stimme, das sein 20-jähriger Bruder in der Ukraine bleiben musste.  

Obwohl die drei Monate bis zur Aufführung für die Mutter herausfordern sind – unter der Woche arbeitet sie in der Schule, lernt abends Deutsch, an den Wochenenden Proben in Ulm – blickt sie voller Dankbarkeit auf diese Zeit: "Während Theater in der Ukraine für mich Entfaltung und Glücksgefühle bedeuteten, war es in Deutschland vor allem ein Mittel, um nicht verrückt zu werden, eine Art Beruhigungstablette, die mich ablenkte. Ein Zufluchtsort."

Im Sommer 2022 realisierte Lyudmila Vitenko gemeinsam mit einer Kollegin aus Poltawa und der Regisseurin und Leiter des Heyoka Theaters in Ulm, Eva Ellerkamp, das Stück #BIENE2. Das Bild zeigt eine der vier Aufführungen im Freien © Malafeya

Nach vier erfolgreichen Aufführungen mit dem Heyoka Theater möchten Lyudmila Vitenko und Eva Ellerkamp ihre Zusammenarbeit fortsetzen. Ein Stück über Brot, als Symbol für das Leben und die Familie, soll für die Wintersaison entstehen. Ein Film soll Teil davon werden. Den drehen gerade Vitenkos Kollegen in ihrer Heimatstadt Poltawa. Es ist bereits deren zweite Doku, eine Art Ersatz für das Theater. Aktuell können sie Stücke nämlich nur vor kleinen Gruppen aufführen. Zu groß ist die Gefahr eines plötzlichen Raketenangriffs. Im Oktober entscheidet sich, ob das Ulmer Theater eine Finanzierung für das Vorhaben bekommt.

Meine Erfahrung zeigt mir, wenn ein Mensch wirklich etwas will, findet er einen Weg.

Vitenko möchte auch gern direkt in Weil der Stadt ein Theaterprojekt realisieren, mit ukrainischen und deutschen Kindern. Sie hofft auch, ab September wieder in der Schule arbeiten zu können. "Natürlich wollen wir so schnell wie möglich Frieden und in die Ukraine zurück", sagt sie. Aber sie müsse sich auch darauf einstellen, dass dies so schnell nicht möglich sein wird. Bis dahin möchte sie sich ein Leben in Deutschland aufbauen. "Meine Erfahrung zeigt mir, wenn ein Mensch wirklich etwas will, findet er einen Weg."

Und die Familie, bei der sie 1991 gelebt hatte? Sie erinnert sich noch an den Namen und die Straße. Sobald ihr Deutsch gut genug ist, möchte sie an der Haustür klingeln. 

 

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Redaktion und Autoren
Irina Peter

Die Bloggerin Irina Peter ist 2022 ifa-Kulturassistentin. In Kasachstan geboren, lebt sie seit dem Kindheitsalter in Deutschland und hat vor einigen Jahren durch Familienforschung ihr Interesse zur Ukraine entdeckt. Ihre Vorfahren waren Wolhyniendeutsche. Als Kulturassistentin beim Rat der Deutschen der Ukraine / Рада німців України / Совет немцев Украины wird sie deutschstämmige Menschen aus der Ukraine zu ihren Erlebnissen und ihrer aktuellen Situation während des russischen Krieges gegen ihre Heimat interviewen. Ihre Geschichten werden online sowie im Rahmen einer Ausstellung am Ende des Jahres sichtbar gemacht.