Staatsgalerie Stuttgart

Sehen lernen in einer visuellen Welt

Für Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, sind Museen Orte, die gerade in Krisenzeiten die Möglichkeit geben, individuelle Antworten zu finden. Wirkung erzielt die Kunst auch dann, wenn sie nicht didaktisch und politisch korrekt ist.

ifa: Wie geht es der Staatsgalerie Stuttgart seit und in der Corona-Krise? Wie verändert die aktuelle Situation die Arbeit Ihres Museums und seine Konzeption?

Christiane Lange: Die Staatsgalerie Stuttgart hat nach der abrupten zweimonatigen Schließung seit dem 12. Mai wieder geöffnet. Es gelten die üblichen Hygiene- und Abstandsregeln wie Einbahnstraßensystem, Maskenpflicht, Datenerhebung und Desinfektion. Das läuft alles reibungslos. Leider kommen nur etwa 30–40% der üblichen Besucher, was für uns einen großen Einnahmeverlust bedeutet. Selbstverständlich können wir auch nur einen Bruchteil des Vermittlungsprogrammes mit seinen Veranstaltungen und Führungen anbieten. Immerhin mussten wir das Ausstellungsprogramm nicht verändern, da die Ausstellungen des Jahres 2020 fast ausschließlich auf Werken der eigenen Sammlung basieren

ifa: Wie sprechen Sie unter den veränderten Bedingungen Ihr Publikum an? Welches Publikum erwarten Sie und was erwarten Sie von Ihrem Publikum?

Lange: Bereits während der Schließphase haben wir unsere digitale Präsenz erhöht und das trotz Wiederöffnung bis heute aufrechterhalten. Damit können wir den Wegfall des Vermittlungsprogrammes teilweise kompensieren.

ifa: Was betrachten Sie als die vorrangigen gesellschaftlichen Aufgaben Ihres Museums?

Lange: Museum ist der Ort, an dem wir mit der universellen Sprache der bildenden Kunst aktuelle Themen auf andere Weise als den üblichen Diskursen verhandeln können. Gerade in einer Zeit, in der wir es mit nicht greifbaren Ängsten zu tun haben, ist Museum der Ort, in dem individuelle Antworten gefunden werden können.

ifa: ln welcher Weise sollten Museen Geschichten, Bilder und Erzählmuster vermitteln und reflektieren?

Lange: Die Staatsgalerie bietet ein Fülle von Vermittlungsprogrammen an: von der klassischen Führung bis zum Dialog vor dem Bild, vom Vortrag bis zum spielerischen Selberbasteln oder Musizieren. Ich glaube jedoch, dass die Kunst selbst genug zu erzählen hat. Wir müssen uns nur die Zeit geben, ihre Sprache verstehen zu lernen. Und diese Sprache lernen wir nur im Dialog mit der Kunst. Der Ort dafür ist das Museum.

ifa: Verstehen Sie Ihr Museum dabei als Ort des politischen Diskurses?

Lange: Selbstverständlich. Kunst ist immer in ihrer Zeit und damit auch politisch. Auch vom Künstler selbst als unpolitisch bezeichnete Bilder eines Gerhard Richters sind mit der Distanz eines halben Jahrhunderts Ausdruck politischer Aufarbeitung und Stellungnahme zum Zeitgeschehen.

ifa: Wie können Museen heute international, post-nationalstaatlich und verantwortungsvoll wirken?

Lange: Museen müssen der Kunst vertrauen. Wirkung erzielt die Kunst auch dann, wenn sie nicht didaktisch und politisch korrekt ist. Solange wir uns als Gesellschaft den Luxus leisten, öffentliche Museen zu unterhalten, ist dies per se ein verantwortungsvoller Akt. Kunst sprach und spricht immer eine internationale Sprache. Die Idee des Nationalstaats wurde im 19. Jahrhundert geboren, im 20. Jahrhundert ist sie bereits wieder überholt. Die Kunst hat sich zu keiner Zeit völlig vereinnahmen lassen.

ifa: Museen übernehmen heutzutage sehr viele und unterschiedliche Funktionen. Wie würden Sie definieren, was das Museum heute ist oder sein sollte?

Lange: Das Kunstmuseum sollte
•    ein öffentlicher Ort sein,
•    ein Ort sein, um in einer visuellen Welt sehen zu lernen,
•    ein Ort sein, um eine universelle Sprache zu lernen,
•    ein Ort sein, der mir Kraft gibt,
•    ein Ort sein, der mich auch spirituell bereichert,
•    ein Ort der Ruhe und gleichzeitig
•    ein Ort des lebendigen Austauschs sein.


Professor Dr. Christiane Lange ist Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart

MuseumsNow

Unter dem Titel "MuseumsNow" befragte das ifa Akteurinnen und Akteure internationaler Museen nach ihren aktuellen Erfahrungen, Herausforderungen und Visionen – auch vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie. Die Interviews und Berichte geben einen Einblick in gegenwärtige museale Praktiken und zivilgesellschaftliches Handeln von Museen weltweit.

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