Dass junge Menschen in Serbien auf die Straße gehen, sei in der Tradition des Landes keine Seltenheit, ordnet Ivalyo Dinev, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, ein: "Seit 2016 gab es mehrere Protestwellen im Land, die Unzufriedenheit der Bevölkerung war hoch." Aber keine von ihnen habe bisher eine solche Schlagkraft entwickelt: "Die Proteste werden aktuell von zahlreichen Gruppen quer durch die Gesellschaft unterstützt – von zivilgesellschaftlichen Organisationen über Rentner:innen und Landwirt:innen bis hin zu Schülerinnen und Schülern", so Dinev.
Damit zeigten sie im aktuellen Weltgeschehen eine Alternative auf: "Wir sehen zivilgesellschaftliches Engagement, das sich demokratisch organisiert, inklusiv ist und Menschen zusammenbringt – und das alles ausgehend von einem sehr unverhofften, halbautoritär geführten politischen System wie Serbien. Das gibt Hoffnung. Man sieht, wie eine Gesellschaft vereint werden kann, indem man Punkte in den Mittelpunkt stellt, die alle gemeinsam verfolgen", so Dinev.
Das spürt auch Nikola. Im Amphitheater seiner Universität nimmt er regelmäßig am sogenannten Plenum, dem Entscheidungsgremium der Protestbewegung, teil. Nach demokratischem Prinzip stimmen die Studierenden hier über strategische Tagesordnungspunkte ab, die sie zuvor selbst gewählt haben. "Jeder kann hier immer seine Meinung äußern, die dann durchdiskutiert wird. Danach wird abgestimmt, was man mit dem Thema machen soll", erzählt er.
Wie lebendig eine solche Bewegung sein kann, zeigt sich auch auf den Protestmärschen. "Pumpaj" rufen die Studierenden hier immer wieder – eine Parole, die ins Deutsche übersetzt so viel wie "Pumpe" bedeutet. "Das hat mehrere Bedeutungen", ordnet Nikola ein. "Eine der schönsten ist für mich, dass sie das Herz symbolisiert, das Leben ins Land pumpt, damit es gesund werden kann."
Gleichzeitig lastet auf den Studierenden eine große Verantwortung: Sie werden zu Hoffnungsträgern einer Gesellschaft, die mit demografischen Problemen und Frustration zu kämpfen hat. "Die Jugend steht für viele Menschen in Serbien für die Zukunft und für Hoffnung. Die anderen Gruppen akzeptieren, dass sie die Proteste anführen und warten ab, wie sie weiter vorgehen", sagt Dinev.
Gerade jetzt steht die Bewegung an einem kritischen Punkt. Nach dem Rücktritt des serbischen Premierministers und der Herausgabe von Dokumenten zum Unglück von Novi Sad stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Bleiben die Proteste eine Randbemerkung in den Geschichtsbüchern oder können die Studierenden das Land tatsächlich so zu verändern, dass es nachhaltig demokratischer wird? "Es gibt meiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten, um den Protest zu institutionalisieren", findet Dinev. "Die Studierenden könnten ein großes Plenum gründen, in dem Vertreter:innen aller Unterstützer:innen sind, eine Koalition quer durch die Gesellschaft. Eine solche Plattform wäre eine historische Veränderung. Oder sie könnten eine Partei gründen. Beides würde den Kurs des Landes nachhaltig verändern."