Demonstrant:innen mit serbischen Plakaten

Proteste in Serbien: Wie junge Menschen die Demokratie stärken

Perspektiven eines Politikwissenschaftlers und eines Studenten der deutschen Minderheit in Serbien

Seit Monaten demonstrieren in Serbien junge Menschen gegen die Korruption im Land – und verleihen damit der Zivilgesellschaft eine neue Dynamik. Jetzt steht die Bewegung an einem entscheidenden Punkt, findet Politikwissenschaftler und Serbienexperte Ivaylo Dinev: Wie können die Proteste das Land nachhaltig demokratischer machen?

An Protesttagen wacht Nikola Lakatoš morgens in der Universität in Novi Sad auf. Statt in seiner Küche frühstückt der ehemalige ifa-Social-Media-Stipendiat in der Kantine der Fakultät, statt über Hausarbeiten denkt er über Korruption und Demokratie nach.

Seit dem 05. November 2024 ist Nikola, der zur deutschen Minderheit in Serbien gehört, Teil einer der größten Protestwellen in der Geschichte des Landes: Als Reaktion auf den Einsturz einer, gerade erst von der Regierung sanierten Bahnhofshalle in Novi Sad in der nördlichen Provinz Vojvodina, bei dem 15 Menschen zu Tode kamen, gehen dort seit Monaten zehntausende junge Menschen auf die Straßen. Sie besetzen Universitäten, aktivieren die Zivilgesellschaft und organisieren sich nach demokratischen Prinzipien. Ihr Ziel: Sie fordern eine transparente Aufklärung des Vorfalls und, dass die Regierung Verantwortung für das Unglück übernimmt.

Bahnhofsvorhalle in Novi Sad
Bahnhofsvorhalle in Novi Sad mit Blumen und Kuscheltieren zum Gedenken an die Opfer des Unglücks, Foto: Nikola Lakatoš

Dass junge Menschen in Serbien auf die Straße gehen, sei in der Tradition des Landes keine Seltenheit, ordnet Ivalyo Dinev, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, ein: "Seit 2016 gab es mehrere Protestwellen im Land, die Unzufriedenheit der Bevölkerung war hoch." Aber keine von ihnen habe bisher eine solche Schlagkraft entwickelt: "Die Proteste werden aktuell von zahlreichen Gruppen quer durch die Gesellschaft unterstützt – von zivilgesellschaftlichen Organisationen über Rentner:innen und Landwirt:innen bis hin zu Schülerinnen und Schülern", so Dinev.

Die Proteste vereinen Menschen über Generationen und Lager hinweg.

Ivaylo Dinev
Demonstrant:innen mit serbischen Plakaten
Demonstrationen in Novi Sad, Foto: Nikola Lakatoš

Dazu trägt auch eine kluge Strategie der Studierenden bei: Von politischen Forderungen, wie zum Beispiel dem Rücktritt hochrangiger Politiker:innen, ist in ihren Zielsetzungenmomentan keine Rede – und das mit Absicht. "Natürlich steckt dahinter die Unzufriedenheit über die Korruption in Serbien, aber die Protestierenden nutzen ein Ereignis und eine Forderung, mit der sich viele Menschen solidarisieren können. So machen sie die Protestbewegung stark", erklärt Dinev.

Einigung statt Spaltung: Gerade in einem internationalen Klima, in dem selbst etablierte Demokratien ins Schwanken geraten und Autoritarismus immer mehr Zuspruch erhalten, ist dieser Ansatz ein Weg, um das Land in eine andere Richtung zu steuern. In der Vergangenheit habe er eine Spaltung der Zivilgesellschaft beobachtet, sagt Ivaylo Dinev: "In den großen Städten gab es eine aktive Protestkultur, die restliche Zivilgesellschaft hingegen blieb stumm. Das verändert sich gerade: Die Proteste vereinen Menschen über Generationen und Lager hinweg."

Damit zeigten sie im aktuellen Weltgeschehen eine Alternative auf: "Wir sehen zivilgesellschaftliches Engagement, das sich demokratisch organisiert, inklusiv ist und Menschen zusammenbringt – und das alles ausgehend von einem sehr unverhofften, halbautoritär geführten politischen System wie Serbien. Das gibt Hoffnung. Man sieht, wie eine Gesellschaft vereint werden kann, indem man Punkte in den Mittelpunkt stellt, die alle gemeinsam verfolgen", so Dinev.

Das spürt auch Nikola. Im Amphitheater seiner Universität nimmt er regelmäßig am sogenannten Plenum, dem Entscheidungsgremium der Protestbewegung, teil. Nach demokratischem Prinzip stimmen die Studierenden hier über strategische Tagesordnungspunkte ab, die sie zuvor selbst gewählt haben. "Jeder kann hier immer seine Meinung äußern, die dann durchdiskutiert wird. Danach wird abgestimmt, was man mit dem Thema machen soll", erzählt er.

Einerseits bin ich zwar traurig, dass ich überhaupt für Menschenrechte demonstrieren muss. Andererseits fühle ich mich geborgen, wenn ich so viele Menschen sehe, die für ein gemeinsames Ziel kämpfen.

Nikola Lakatoš

Auch die Protestmärsche haben für ihn eine einzigartige Atmosphäre. "Ärzt:innen, Anwält:innen, Bauer:innen, Rentner:innen und viele mehr schließen sich dem Marsch an. Einerseits bin ich zwar traurig, dass ich überhaupt für Menschenrechte demonstrieren muss. Andererseits fühle ich mich geborgen, wenn ich so viele Menschen sehe, die für ein gemeinsames Ziel kämpfen", sagt er.

Diese Erfahrung hat Nikola auch durch seine Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit in Serbien gemacht. Rund 2500 Menschen im Land gehören nach Ergebnissen der letzten Volkszählung 2022 dazu – eine kleine Gruppe, die immer wieder aktiv um ihre Stimme in der Gesellschaft kämpfen muss. "Es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen den Protesten und der Minderheit: das Gemeinschaftsgefühl", sagt Nikola. "Wenn Menschen zusammenarbeiten, um etwas zu verändern, ist das schon atemberaubend. Ganz egal, ob es solche Proteste sind oder die Erhaltung der Kultur der deutschen Minderheit: Ein gemeinsames Ziel schweißt zusammen."

Demonstrant:innen mit serbischen Plakaten
Demonstrationen in Novi Sad, Foto: Nikola Lakatoš

Wie lebendig eine solche Bewegung sein kann, zeigt sich auch auf den Protestmärschen. "Pumpaj" rufen die Studierenden hier immer wieder – eine Parole, die ins Deutsche übersetzt so viel wie "Pumpe" bedeutet. "Das hat mehrere Bedeutungen", ordnet Nikola ein. "Eine der schönsten ist für mich, dass sie das Herz symbolisiert, das Leben ins Land pumpt, damit es gesund werden kann."

Gleichzeitig lastet auf den Studierenden eine große Verantwortung: Sie werden zu Hoffnungsträgern einer Gesellschaft, die mit demografischen Problemen und Frustration zu kämpfen hat. "Die Jugend steht für viele Menschen in Serbien für die Zukunft und für Hoffnung. Die anderen Gruppen akzeptieren, dass sie die Proteste anführen und warten ab, wie sie weiter vorgehen", sagt Dinev.

Gerade jetzt steht die Bewegung an einem kritischen Punkt. Nach dem Rücktritt des serbischen Premierministers und der Herausgabe von Dokumenten zum Unglück von Novi Sad stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Bleiben die Proteste eine Randbemerkung in den Geschichtsbüchern oder können die Studierenden das Land tatsächlich so zu verändern, dass es nachhaltig demokratischer wird? "Es gibt meiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten, um den Protest zu institutionalisieren", findet Dinev. "Die Studierenden könnten ein großes Plenum gründen, in dem Vertreter:innen aller Unterstützer:innen sind, eine Koalition quer durch die Gesellschaft. Eine solche Plattform wäre eine historische Veränderung. Oder sie könnten eine Partei gründen. Beides würde den Kurs des Landes nachhaltig verändern."

Stipendienprogramme der Deutschen Minderheiten am ifa