Porträt von Amila Ramović

Kultureinrichtungen in Bosnien und Herzegowina

Vor welchen Herausforderungen stehen Kultureinrichtungen aktuell in Bosnien und Herzegowina? Amila Ramović zeigt Zusammenhänge und zeichnet ein bedrückendes Bild von der Kulturlandschaft in dem Balkanstaat. Die Musikwissenschaftlerin aus Sarajevo hat bereits zahlreiche Kunstprojekte geschaffen und ist derzeit am ifa-Ausstellungsprojekt "EVROVIZION.CROSSING STORIES AND SPACES" beteiligt.

Wer die Situation der Kultur und der Kultureinrichtungen in Bosnien und Herzegowina beleuchten will, muss sich die allgemeine Situation des Landes vergegenwärtigen und sich bewusst machen, dass dessen kulturelles Leben die momentane politische Entwicklung widerspiegelt.

Bosnien und Herzegowina ist historisch von einer großen kulturellen Pluralität und Offenheit geprägt. Seit der osmanischen Zeit ist die Region Heimat für Menschen mit muslimischen, orthodoxen, katholischen und jüdischen Glauben. Ursprünglich lebten die Angehörigen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften friedlich nebeneinander, nahmen sogar am Leben der jeweils anderen teil und fanden sich in ihnen auch wieder. Vielfalt genießen und pflegen war jahrhundertelang ein zentraler Aspekt der bosnischen Identität. Deshalb konnte die Region von einem sehr reichen kulturellen Leben profitieren, was in persönlichen und institutionellen Geschichten sehr gut dokumentiert ist und weltweit auf Bewunderung stieß.

Ein Boot, das in zwei Richtungen gerudert wird

Doch nach dem Zerfall Jugoslawiens und insbesondere während des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 begann in Bosnien und Herzegowina das Ringen um den Erhalt dieses besonderen kulturellen Erbes. Das Land wurde zwischen serbischen und kroatischen politischen Interessen zerrieben. Es wurde durch unvorstellbare Kriegsverbrechen erschüttert und entlang von ethnischen Grenzen und durch territoriale Streitigkeiten gespalten. In dem Bestreben, das Gebiet zu teilen und Erinnerungen an ein Zusammengehörigkeitsfühl auszulöschen, kam es zu Gewalttaten, ethnischen Säuberungen und Völkermord. Die Straftaten wurden vom Haager Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien als solche anerkannt und öffentlich bekannt gemacht.

Heute ist das Leben der Menschen in Bosnien und Herzegowina komplett von der Vergangenheit geprägt, die sich bis in die Gegenwart auswirkt. Mit Zwangskorsett durch das Daytoner Friedensabkommen versehen, das eine Kompromisslösung zwischen Opfern und Tätern vorsieht, ist Bosnien und Herzegowina einer unerträglichen Zerreißprobe ausgesetzt. Das Land, das entlang der Grenzen der ethnischen Säuberung künstlich geteilt wurde, erlebt seit Jahren den Fortschritt eines Ruderboots, dessen Besatzung in zwei entgegengesetzte Richtungen rudert und auf der Stelle treibend immer tiefer in die Wunden der Opfer schlägt, die ihre Traumata stets aufs Neue durchleben.

Aus praktischer Sicht untergräbt eine derart destruktive politische Realität die Möglichkeit einer Gesellschaft, institutionell gerecht zu funktionieren. Die derzeitige Sachlage bringt es mit sich, dass diejenigen, die die Kriegspolitik betrieben haben, nun über die institutionellen Mittel verfügen, die Teilung in Friedenzeiten fortzusetzen, mit Vetorecht bei allen Initiativen, die die Gesellschaft potenziell voranbringen könnten.

Diese Situation hat sich tiefgreifend auf das kulturelle Leben in Bosnien und Herzegowina ausgewirkt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden staatliche Kultureinrichtungen strategisch zugrunde gerichtet. Grund dafür sind eine fehlende gesetzliche Förderung und die systematische Vernachlässigung aller Institutionen und Initiativen, die im weitesten Sinne von nationaler Bedeutung sind, von den Wissensspeichern wie Museen, Archiven und Bibliotheken bis hin zu Maßnahmen zur Schaffung eines neuen kulturellen Erbes.

Der Plan, der hinter diesem Vorgehen steckt, ist klar: Der politische Mythos, dass die Spaltung der Gesellschaft natürlich und unüberwindbar ist, wird durch Bosniens Kulturgeschichte enttarnt, die von den besagten Institutionen gewahrt und gepflegt wird. Deshalb erlitten Einrichtungen der "Erinnerung", deren Aufgabe es ist, Zeugnisse einer weltoffenen Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten und die Kontinuität des Staates als solchen zu untermauern, ganz besonders brutale Angriffe.

Auf dem Weg zur kulturellen Wüste

Weithin bekannt ist die Tatsache, dass sieben zentrale Kultureinrichtungen "von nationaler Bedeutung" – das Nationalmuseum, die Nationalbibliothek, die Nationalgalerie, das Museum für Literatur und darstellende Künste, das Historische Museum, das Filmarchiv und die Bibliothek für Blinde und sehbehinderte Menschen – im Nachkriegsbosnien keinen Zugang zu Finanzmitteln erhielten. Dies ging sogar so weit, dass ein Minister für zivile Angelegenheiten irgendwann einmal zynisch verlauten ließ, dass diese Einrichtungen seiner Ansicht nach gerade deshalb keine besondere Förderung verdienten, weil "alle Institutionen von nationaler Bedeutung seien".

Gleichzeitig gab es keine Schwierigkeiten bei der Finanzierung von Einrichtungen mit ethnischem oder religiösem Hintergrund, deren Aufgabe es ist, neue politische Identitäten zu schaffen, was zu einer zunehmend ethnisch und religiös geprägten Kultur führte. Unter diesen Umständen beschränkt sich die Kulturförderung im Wesentlichen, wenn auch minimal, auf die kommunale Ebene, auf der zwangsläufig auch lokale Interessen verfolgt werden. Auch werden die Relevanz und Qualität dieser Kulturangebote der Gesamtsituation langfristig nicht gerecht. Deshalb sind heutzutage einzelne Akteure der freien Kulturszene, die von alternativen Finanzierungsmöglichkeiten abhängig sind, für den größten Teil der Kulturproduktion in Bosnien und Herzegowina verantwortlich.

Die fehlende Wahrnehmung von Kultur als zentralem Wert für die Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina ist zur neuen Normalität geworden. Das Ausbleiben starker, anhaltender öffentlicher Proteste gegen diese Situation kann möglicherweise durch die Tatsache erklärt werden, dass diese Entwicklung während einer Phase des "Übergangs" stattfand, in welcher die politische Agenda vom Aufbruch des Landes in Richtung Kapitalismus stark beeinflusst war und das Gemeingut in den Hintergrund gedrängt wurde, so dass die Vorstellung von Kultur als Gemeingut noch abstrakter wurde. Darüber hinaus brachte die kapitalistische Utopie die Vision der "Kulturindustrie" als wertvollste Form der Kultur hervor. Kritische Stimmen warnten jedoch schon vor langer Zeit davor, dass die Kulturindustrie trotz allem eine Industrie ist, in welcher finanzielle Einnahmen die einzig anerkannte Form von Gewinn sind und nicht das symbolische Kapital zählt, das den Geist einer Gesellschaft ausmacht.

2020 läuft Bosnien und Herzegowina Gefahr, zur kulturellen Wüste zu werden. Große Veränderungen müssen passieren, wenn diese Gesellschaft ihr Gedächtnis und ihre Identität wahren, Erfahrungen in ein kulturelles Erbe überführen und nicht zuletzt die historischen Botschaften vermitteln möchte, welche die Identität der Bosnierinnen und Bosnier für kommende Generationen prägen sollen.

Über EVROVIZION. CROSSING STORIES AND SPACES

Das ko-kreative Ausstellungsprojekt setzt sich mit der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation Europas und der Idee einer europäischen Identität auseinander. Im Fokus stehen weniger sichtbare und marginalisierte geopolitische und kulturelle Räume, insbesondere Orte in Südost- und Osteuropa. Es sind sogenannte Halbperipherien und Orte der Vielfalt, die in vielen internationalen Theoriedebatten und Ausstellungspraktiken eine untergeordnete Rolle einnehmen, wie etwa das multiethnische Sarajevo – die erste Station des Projektes.

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Über die Autorin
Amila Ramović

Amila Ramović ist Musikwissenschaftlerin und Kuratorin aus Sarajevo. In den letzten zwanzig Jahren hat sie zahlreiche zeitgenössische Kunstprojekte in Bosnien und Herzegowina und weltweit produziert. Sie ist Hochschuldozentin an der Akademie für Musik und darstellende Künste Sarajevo.