Kolonialismus im Bücherregal?

Wie die ifa-Bibliothek ihre kolonialen Bestände aufarbeitet

Die ifa-Bibliothek ist als wissenschaftliche Spezialbibliothek eine zentrale Anlaufstelle im Bereich internationaler Kulturbeziehungen und Auswärtiger Kulturpolitik. Seit über 100 Jahren sammelt sie Fachliteratur und umfasst rund eine halbe Million Bände. Durch ihr langes Bestehen spiegelt sie die wechselhafte Geschichte Deutschlands wider: Zu den Beständen gehören auch einige aus der Kolonialzeit. Das ifa hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese kritisch aufzuarbeiten. Ein erster wichtiger Schritt erfolgte mit der Digitalisierung der Kolonialzeitbestände. Für eine konstruktive Aufarbeitung ist eine wissenschaftliche Kontextualisierung wichtig. Diese zentrale Herausforderung soll nun durch Kooperationen mit Universitäten und Fachverbänden weiterentwickelt werden.

Das Interview wurde mit Almut Galos geführt, der Bereichsleitung für den Bestandsaufbau bis März 2025. Sie hat sich intensiv mit den kolonialen Beständen befasst und die Digitalisierung begleitet.

ifa: Wie ist die ifa-Bibliothek auf das Thema Dekolonialisierung aufmerksam geworden? 

Almut Galos: Es kamen Digitalisierungsmittel vom Auswärtigen Amt, und Kolonialismus war ein Schwerpunktthema. Uns war klar, dass wir dazu ausreichend Bestände haben, die urheberrechtsfrei sind. Da war die Entscheidung, diese im ersten Schritt zu digitalisieren, um die Quellen der Forschung zugänglich zu machen. 2019 haben wir dann richtig losgelegt. Die dekoloniale Perspektive kam vor allem durch die Studie von Nora Schmid für das Forschungsprogramm "A Decolonial Approach to Open Access Repositories". Aus dieser Studie haben wir viele Impulse, gerade was das Thema Dekolonialisierung angeht, mitnehmen können. 

Rotes Buchcover mit Goldschrift über Pflanzerjahre in Deutsch-Ostafrika
Die Inhalte der Bücher mit kolonialem Bezug sind unterschiedlich, es geht teilweise um Wirtschaft, Recht und natürlich finden sich viele Reise- und Missionsberichte. Dies ist ein Beispiel für einen Reisebericht über verschiedene Pflanzenarten in Ostafrika.

Welche Bücher wurden bisher veröffentlicht? 

Wir haben 109 Titel aus vier Ländern veröffentlicht. Die sind alle mit kolonialen Bezügen. Mittlerweile haben wir mehr digitalisiert, auch Aspekte wie "Deutsche im Ausland" oder auch sogenannte "Raras". Raras sind sehr alte Titel im Bestand, die man auch aus Bestandsschutz digitalisiert, weil man die nicht mehr so oft in die Hand nehmen sollte, so alt und historisch sind die Werke. Die Erscheinungsjahre sind 1826 bis 1925, da haben wir einen Cut gemacht wegen dem Urheberrecht. Wir haben mehr digitalisiert, das ist noch nicht online, weil das Urheberrecht noch gilt. Also können wir in den nächsten Jahren noch nachlegen. Interessanterweise sind fast alle Werke auf Deutsch, nur ein englischer Titel ist dabei. Und spannend ist auch die Art von Publikationen, es sind überwiegend Monografien, aber ich habe auch Vorträge oder Dissertationen darunter gefunden.  Und die Themen umfassen Missionen, aber auch Wirtschaft, Recht, natürlich auch viel Reiseberichte, aber auch sowas wie landwirtschaftliche Ratgeber. Also ein sehr breites Spektrum, was da an Literatur aus der Zeit stammt.


Du hast erwähnt, dass die Werke aus vier Ländern stammen. Welche sind das?

Deutschland, die Schweiz – da es dort viele Missionsbewegungen gab –, die USA und Namibia.

Digitalisierung und historische Quellen: Welche Werke sind online verfügbar – und wer entscheidet das?

Du hast bereits über das Urheberrecht gesprochen. Welche Rolle spielt der Seltenheitswert eines Werkes und wer entscheidet, welche Bücher digitalisiert werden? 

Zum einen spielt das Urheberrecht eine Rolle – Werke können erst digital veröffentlicht werden, wenn der Autor seit mindestens 70 Jahre verstorben ist. Außerdem schauen wir, welche Titel nur bei uns in der ifa-Bibliothek vorhanden sind. Besonders unsere historischen Bestände oder die Sammlung Deutschsprachige Presse des Auslands enthalten viele Titel, die es sonst nirgendwo gibt. Die Digitalisierung ist ein Mittel, um diese haltbar online zu konservieren. Das ist insbesondere bei den Zeitungen für die Bestandserhaltung wichtig. Zeitungspapier bröckelt noch schneller als Buchpapier. 

Vergleich unreifer Baumwollkapseln: ägyptische und indische Sorte
Botanische Zeichnung von Baumwollkapseln aus Ägypten und Indien. Die Zeichnung ist ein Teil der digitalisierten Bestände mit Kolonialbezug der ifa-Bibliothek.
Übersichtskarte der deutschen Kolonien in Afrika und Ozeanien um 1900
Die Übersichtskarte der deutschen Kolonien in Afrika und Ozeanien um 1900 ist ein Teil der digitalisierten Bestände mit Kolonialbezug der ifa-Bibliothek.

Wie lange dauert es, so ein Buch zu digitalisieren? 

Das hängt von der Methode ab. Manche Dienstleister nutzen Scanner mit automatischer Umblätterfunktion, andere arbeiten mit studentischen Hilfskräften, die jede Seite manuell erfassen, trotzdem geht es relativ zügig. Der größere Aufwand ist jedoch die Nachbearbeitung. Wir erhalten Rohdaten, die wir über ein Workflow-Tool hochladen. Dann müssen wir noch die Metadaten eingeben, also wer ist der Autor, wer ist der Verlag, wann ist das Buch erschienen, wie viele Seiten hat es, wie sieht das Inhaltsverzeichnis aus. Das muss man erfassen, damit die einzelnen Kapitel aufrufbar sind. Eine gewisse Qualitätskontrolle muss zum Schluss durchgeführt werden und schließlich müssen die Daten in die Katalog-Datenbank eingebunden werden. Das ist die Arbeit, die die Bibliothekarinnen erledigen. Dabei entstehen schnell Datenmengen, die wirklich massiv sind. Deshalb haben wir mit Fördermitteln einen eigenen Server angeschafft – langfristig ist das günstiger als externes Hosting.

Wie viel Speicherplatz benötigt das?

60 Terabyte haben wir jetzt für die Zeitungsdaten gebraucht. Und das sind nur die Zeitungsbestände.


Können digitalisierte Werke per Textsuche durchsucht werden?

Ja, durch OCR-Technologie, Optical Character Recognition. Moderne Drucke sind zu 80–90 % korrekt erfasst, aber bei Frakturschrift tut sich die OCR immer noch schwer. 

ifa-Bibliothek Goes Global: Internationale Netzwerke und die Debatte um eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte

Viele historische Werke enthalten rassistische oder kolonialistische Begriffe. Wie geht die Bibliothek damit um?

Das ist ein großes Thema, nicht nur in unserer Bibliothek, sondern generell. Es gibt auch Sammlungen, die zum Beispiel Videomaterial aus der NS-Zeit archivieren. Es gibt in Frankfurt von der Unibibliothek eine Fotografiesammlung aus der kolonialen Zeit. Das sind teilweise schreckliche Fotos, die mit Triggerwarnungen versehen sind. Bei uns war die wissenschaftliche Kontextualisierung zunächst nicht Teil des Projekts. Und das ist der Schritt, den wir jetzt gehen wollen, um genau das einzuordnen mit einem begleitenden Text oder Ähnlichem. So können wir deutlich machen, dass das schwieriges Material aus der Zeit ist. Für viele Bibliotheken ist es wirklich ein Problem, dass bei Digitalisierungsmitteln meistens die wissenschaftliche Aufarbeitung nicht dabei ist. Es gibt Tagungen, Austausche und es gibt ein Netzwerk, in denen dies thematisiert wird und wo man auch versucht, da weiterzukommen. Da tut sich zum Glück einiges, aber wir sind jetzt mit unserem Projekt eben dabei, das als nächsten Schritt auch anzugehen. 

Farbige Illustration eines Leoparden auf einem Buchcover aus der Kolonialzeit.
Bisher wurden 109 Titel mit kolonialen Bezügen aus vier Ländern bei Digishelf veröffentlicht.

Ist geplant, die digitalisierten Werke wissenschaftlich einzuordnen und kontextualisieren zu lassen? Wie könnte die wissenschaftliche Aufarbeitung aussehen?

Uns ist das ein Anliegen, damit gut umzugehen, das gut einzuordnen. Beim Wissenschaftsfestival vom ifa im letzten Jahr habe ich das Projekt vorgestellt und daraufhin hat sich ein Kontakt zu einer Lehrbeauftragten der Uni Tübingen ergeben. Im Sommersemester entsteht jetzt ein Seminar, das die Bestände mit kolonialen Bezügen der ifa-Bibliothek analysiert und bearbeitet. Im September wird es dazu eine öffentliche Veranstaltung geben. Und wir können das nochmal als Beispiel mit in die Bibliotheks-Community nehmen. Wir sind auch gespannt, weil die Studierenden inhaltlich mit den Titeln anders arbeiten als wir Bibliothekar:innen. Das ist für uns wirklich ein sehr wichtiges Projekt und wir sind sehr froh, dass die Kooperation entstanden ist. 

Und das zeigt ja auch nochmal die Wichtigkeit von solchen Veranstaltungen und Vernetzungen. Aber wie funktioniert die Suche in den digitalen Beständen überhaupt?

DigiShelf ist ein von vielen Bibliotheken genutztes Portal mit zentral gesteuerten Suchmöglichkeiten. Ich kann über verschiedene Sucheinstiege einsteigen. Ich kann nach einem Titel, einer Sammlung – etwa Kolonialismus – oder im Volltext suchen. Verlinkte Inhaltsverzeichnisse ermöglichen den direkten Zugriff auf Kapitel, eine Miniaturansicht erleichtert die Navigation. Da die Werke urheberrechtsfrei sind, können einzelne Seiten, Kapitel oder ganze Bücher als PDF heruntergeladen werden. Über zentrale Bibliothekskataloge sind die Titel auffindbar, darunter auch nicht digitalisierte Bestände, die bestellbar sind.

DigiShelf ist ein von vielen Bibliotheken genutztes Portal mit zentral gesteuerten Suchmöglichkeiten.
Screenshot der Trefferliste historischer Werke auf digishelf.de mit Filter- und Sortierfunktionen.
In DigiShelf kann nach einem Titel, einer Sammlung oder im Volltext gesucht werden.
Screenshot von der Website Digishelf.
Man kann auf DigiShelf auch das Inhaltsverzeichnis der Bücher anzeigen lassen.

Wie kann die Bibliothek zur öffentlichen Debatte über Kolonialismus und historische Verantwortung beitragen? 

Wir unterstützen die wissenschaftliche Aufarbeitung durch Kooperationen, Fachvorträge und Vernetzung. Im Haus gibt es diese Projekte wie die Studie von Nora Schmidt, die Anstöße auf einer Metaebene mitnehmen. Fachvorträge sind sehr wichtig, wenn sich da Gelegenheiten ergeben, auch der Austausch auf bibliothekarischen Fachtagen. Dann Vernetzung über Facebook oder die sozialen Medien, aber eben auch Kooperationen mit wissenschaftlichen Einrichtungen. Die Kooperation mit der Uni Tübingen ist dabei ein großer erster Schritt. Und Veranstaltungen, eben das Wissenschaftsfestival oder auch die Vernetzung in der Bibliothekscommunity, sollen auch dazu führen, dass das Thema sichtbarer wird. 

ifa-Bibliothek

Die Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen ist eine wissenschaftliche Spezialbibliothek zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik mit einer über 100-jährigen Geschichte. Sie unterstützt die Forschung und erbringt Informationsdienstleistungen für politische Entscheidungsträger:innen. Die Bibliothek ist öffentlich zugänglich und steht allen Interessierten für die kostenfreie Nutzung der Medien und Dienstleistungen offen. Weitere Informationen auf der Website des ifa.