"Ich wünschte mir, meine Musik wäre eine Waffe"

Die Proteste in Belarus haben das Land für immer verändert. Eine besondere Rolle dabei spielten die Künstlerinnen und Künstler. Was haben sie erreicht und wie haben sie die Kunst im Land verändert? Ein Dossier der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH

Mehr als ein Jahr nach den Massenprotesten infolge der gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus steht es schlecht um die unabhängige Kultur im Land. So berichten es unabhängige belarussische Kulturschaffende in einem aktuellen Dossier der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH. Wer heute in Minsk beispielsweise kritisches Theater sehen will, geht auf Hinweis eines Insiders an einen geheimen Ort und sieht etwa die Lesung "Halbjahr" von Wiktoryja Kowal. Eine Ankündigung des Stückes gibt es nicht, der Name der Regisseurin ist natürlich ein Pseudonym, die Theatergruppe nennt sich aus Sicherheitsgründen "No Names".

Wie in den Krisenzeiten der Sowjetunion bemüht sich das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko, die Kritiker:innen mit Drohungen und Gewalt zum Schweigen zu bringen. Zensur und die Liquidierung alternativer Kultureinrichtungen sind wieder Alltag. Folglich sind auch die Theateraufführungen in die Wohnzimmer von Privatleuten zurückgekehrt. Gespielt wird vor wenigen vertrauten Gesichtern. Die Angst, doch erwischt zu werden, sitzt als ungebetener Gast immer dabei. Davon erzählt die belarussische Kuratorin und Kunstkritikerin Tania Arcimovich. "Anonymität ist zum Signum der heutigen belarussischen Wirklichkeit geworden", schreibt sie in ihrem Beitrag "Territorium des Überlebens".

Staatliche Gewalt und ein überwältigendes Gemeinschaftsgefühl

Mehrere Künstler:innen und Wissenschaftler:innen beschreiben im Dossier die Rolle der Kulturschaffenden bei den Protesten im Sommer 2020. Die Autor:innen zeichnen ein bedrückendes Bild dessen, was von der unabhängigen Kultur im Land geblieben ist und geben Einblicke in das, was die Künstler:innen und Bürger:innen damals gleichfalls bewegte: die Sehnsucht nach Freiheit.

Der Künstler und Schriftsteller Aliaxey Talstou erzählt etwa von den Straßenprotesten und fragt nach der Rolle der Kunst in der Politik. Mehr als eine Million Bürgerinnen und Bürger beteiligten sich 2020 an den Protesten. Sie reckten Poster in den blauen Sommerhimmel – viele satirisch, oft provokant, forderten sie den Rücktritt des Mannes, der sich seit drei Jahrzehnten an die Macht klammert. Auch Künstlerinnen und Künstler hielten ihre Bilder und Schrifttafeln hoch. Doch gingen Talstou zufolge ihre Werke in der leuchtenden Vielfalt regelrecht unter und unterschieden sich kaum von den der gewöhnlichen Bürger:innen. "Welchen Beitrag kann politisch engagiert Kunst in einer Zeit des politischen Engagements leisten?", fragt er.

Demonstranten schreiben im August 2020 Botschaften des Friedens und der Freiheit auf eine historische weiß-rote Flagge von Belarus, die zum Symbol der Bewegung gegen Staatschef Alexander Lukaschenko geworden ist. © picture alliance/dpa | Ulf Mauder

Talstou beschreibt, wie eine ganze Generation kritischer Künstler:innen im vergangenen Jahrzehnt in ihren Arbeiten den Wandel gefordert haben – und damit auch die jüngsten Proteste inspirierten. "Die Künstler:innen, deren Werk bislang vor allen Dingen in Ausstellungen existierte, standen plötzlich Auge in Auge mit der Bereitsschaftspolizei. Sie erläuterten nicht etwa einen Standpunkt, sie verkörperten ihn durch ihre eigene Gegenwart."

Die Verschmelzung der künstlerischen Perspektive mit den politischen Forderungen der Bürger:innen, der gemeinsame Protest, das geeinte Handeln: Immer wieder heben die Autor:innen des Dossiers das "überraschende Gemeinschaftsgefühl" hervor, das die staatliche Gewalt erzeugt hat, wie der Dichter Dmitri Strozew festhält. Er hat die staatliche Gewalt am eigenen Körper erfahren. Im Oktober 2020 wurde er nach einer friedlichen Demonstration in Minsk festgenommen und für 13 Tage ins Gefängnis gesperrt. Seine Verhaftung löste unter Kolleg:innen in Belarus und Russland heftige Reaktionen aus: Auf Facebook erschienen Tausende Beiträge als Zeichen der Solidarität, Lesungen wurden organisiert, Artikel verfasst.

"Für mich persönlich war die wichtigste Erfahrung des Jahres 2020 die außergewöhnliche ethische Solidarität der gesamten Gesellschaft", schreibt er. Sie habe den Protest überhaupt erst ermöglicht. Eine solche Erfahrung kann auch Glück bedeutet, findet Strozew. "Zum Glück gehören auch Schmerz und Freude gleichermaßen. Der Schmerz, dass bei einem Marsch anderthalbtausend Menschen festgenommen wurden. Und die Freude, wenn ein Freund von seinem Sohn, einem politischen Häftling, einen Brief bekommt."

Auch der Musiker Pavel Niakhayeu kann dem Gemeinschaftsgefühl einiges abgewinnen. In seinem Text erzählt er von Kolleg:innen, deren Lieder auf Demonstrationen, in Polizeiwagen und Gefängnissen gesunden wurden. "Ihre Musik trug enorm dazu bei, die Menschen zu solidarisieren, zu inspirieren und zu heilen", schreibt Niakhayeu. Doch klingen bei ihm auch andere Töne durch, vor allem weil die Proteste das Regime nicht zu stürzen vermochten und die Reaktionen des staatlichen Sicherheitsapparates die Kulturszene zutiefst erschüttert haben. Das bloße Überleben in Belarus erfordere nun sehr viel Energie, schreibt Niakhayeu. Viele der heute im Land gebliebenen Künstler seien deprimiert und hätten den Mut verloren, weiterhin Kunst zu schaffen. Der Autor erzählt vom begabten Jazz-Musiker Pavel Arakelyan, der seine Musikinstrumente verkaufte, weil er nicht wie früher musizieren könne. Auch Niakhayeu selbst, der als Produzent für elektronische Musik und  als Klangforscher arbeitet, weiß nicht, wann er wieder Musik machen werde. "Ich kann meine Zuhörer nicht mehr bezaubern, wenn ich die Musik eigentlich nur in eine Waffe verwandeln will."

Es fehlen die Bedingungen für eine freie Kunstszene

Nicht selten sind es auch praktische Fragen, die den Alltag vieler Kulturschaffenden seither auf den Kopf gestellt haben. Fehlende Förderungen, fehlende Räume und fehlende Auftraggeber lassen die belarussische Kulturszene Stück für Stück schrumpfen. Kunsthäuser wie die Galerie Ў wurden geschlossen, weil ihre Leiterinnen ins Ausland flohen. Auch verlangte die Regierung die Schließung des Goethe-Instituts in Minsks oder des Büros des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). "Jetzt fehlen in Belarus nicht nur die Einrichtungen der Kulturszene, sondern schlichtweg die Menschen, die diese Szene bewahren und weiterentwickeln könnten" schreibt die Kunstmanagerin Anna Karpenko.

„Wie viel Blut braucht es noch?” steht auf dem Plakat des jungen Mannes auf dem Unabhängigkeitsplatz in Minsk im August 2020. Belarussische Autor:innen beschreiben, dass die Proteste ungeheuer viele kreative Ausdrucksformen hervorgebracht haben. © picture alliance/dpa | Ulf Mauder

Allein 2020 seien inoffiziellen Angaben zufolge fast 40.000 Menschen aus dem Land geflohen, 4.000 Personen sitzen im Gefängnis. Nicht alle von ihnen sind Kulturschaffende, doch gehören die meisten von ihnen zur gut ausgebildeten Klasse. Schon aufgrund solcher Zahlen lassen sich nur schwer Hoffnungen für Veränderungen formulieren. Der Autor und Musiker Pavel Niakhayeu konstatiert dennoch "hartnäckige Büschel" der Grassroots-Kultur, die der Angstmaschinerie des Regimes trotzen. Dass die Kulturszene überhaupt existiert, ist für ihn die Voraussetzung einer in der Zukunft liegenden Veränderung. Man könne keine freie Gesellschaft mit Musik allein erschaffen, schreibt er. "Aber ohne Musik geht es ganz sicher gar nicht ." Ein optimistischer Lichtblick inmitten einer Landschaft im Schatten.