Die Interviewenden Zineb Bettayeb und Ehsan Hosseinzadeh gehören zum Alumni-Netzwerk des ifa CrossCulturePrograms (CCP). Das Interview entstand in Rahmen eines Journalist:innen Trainings, welche das CCP seinen Alumni zur Berichterstattung über Kultur und Zivilgesellschaft anbietet.
Zineb & Ehsan: Nach der Eroberung Kabuls und der Machtübernahme durch die Taliban im August letzten Jahres ist die Hälfte der Bildungseinrichtungen geschlossen worden. Welchen Restriktionen sind Sie als ausländische Nichtregierungsorganisation derzeit unterworfen?
Peter Schwittek: Derzeit sind alle unsere Tätigkeiten gestoppt, wir haben keinen förmlichen Vertrag mit den Taliban. Wir sind jedoch in Verhandlungen mit dem Ministerium für Religionsfragen, um zu einer Vereinbarung zu gelangen.
Zineb & Ehsan: Gibt es besondere Beschränkungen für Mädchen?
Schwittek: Ja, wir haben Probleme bei Mädchen, die das Pubertätsalter erreichen. Die Taliban haben erklärt, dass nur Mädchen unter 8 Jahren unsere Schulen besuchen dürfen. Wir verhandeln nun mit ihnen über eine Lösung.
Zineb & Ehsan: Wie kommen Ihre Verhandlungen mit den Taliban voran?
Schwittek: Wir haben um Schutz für unsere Angestellten gebeten. Das Ministerium für Religionsfragen sagt: „Ihr könnt im Land bleiben und Eure Arbeit problemlos weiterführen“. Im Laufe der Verhandlungen hat sich aber gezeigt, dass Soldaten jene verfolgen, die früher mit ausländischen Organisationen zusammengearbeitet haben. Das ist ein Widerspruch. Wir haben den Zuständigen aufgefordert, die Verfolgung der Angestellten zu unterlassen, die für uns als ausländische Organisation gearbeitet haben, die Frage bleibt jedoch ungelöst. Das Problem liegt bei den Taliban selbst, da sie sich nicht entscheiden können, was sie wollen.
Zineb & Ehsan: Nehmen Sie unter den Taliban unterschiedliche Stimmen wahr?
Schwittek: Ja, es gibt unterschiedliche Standpunkte. Wir müssen abwarten und schauen, wie sich das Haqqani-Netzwerk in Afghanistan entwickelt.
Zineb & Ehsan: Sie meinen den radikalen Flügel der Taliban, der sich um den inzwischen verstorbenen Dschalaluddin Haqqani bildete und Teil des inneren Machtzirkels der Taliban-Regierung ist?
Schwittek: Richtig. Momentan können sich viele Personen aus dem Westen – auch Journalistinnen und Journalisten – im Land frei bewegen, sogar noch freier als zuvor, da sie von einem Teil der Taliban-Regierung geschützt werden. Ich selbst kehre vielleicht bald nach Afghanistan zurück, um die Vereinsangelegenheiten vor Ort in Ordnung zu bringen. Selbst meine Kolleginnen und Kollegen in Afghanistan wissen nicht, wer die Macht im Land übernehmen wird.
Zineb & Ehsan: Wie geht Ofarin damit um, dass das afghanische Bankensystem kurz vor dem Zusammenbruch steht?
Schwittek: Wir haben immer noch Probleme mit Geldüberweisungen. Die Situation der Banken in Afghanistan ändert sich jedoch von Woche zu Woche und scheint sich für Organisationen wie uns zu verbessern. Im Moment wickeln wir die Transaktionen informell über bestimmte Finanzdienstleister ab. Wir überweisen Geld in die Türkei und dann wird es in Kabul ausgezahlt, derzeit sind jedoch selbst die Banken in der Türkei in Schwierigkeiten.
Zineb & Ehsan: Ihr Verein erhielt Mittel von christlichen Organisationen, obwohl der von Ihnen angebotene Unterricht in Moscheen abgehalten wird. Warum besteht dort ein Interesse daran, Ihr Projekt zu unterstützen?
Schwittek: In der Vergangenheit erhielten wir Förderung durch gemeinnützige Vereine aus Deutschland, sogar von Seiten einer kirchlichen Einrichtung, die uns lange Zeit während der Herrschaft der Taliban unterstützte. Ich denke, weder auf deutscher noch auf afghanischer Seite gibt es Vorbehalte dagegen. Jede Seite hat ihre eigenen Glaubensauffassungen. Es sind jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir entwickeln sollten. Ich empfehle Menschen im Umgang mit Musliminnen und Muslimen immer, interreligiöse Diskussionen zu vermeiden und stattdessen Vertrauen und Freundschaft herzustellen. Wenn religiöse Themen angesprochen werden, treten sofort Schwierigkeiten auf.
Zineb & Ehsan: Fühlen Sie sich verantwortlich für Ihre Angestellten? Und wenn ja, was haben Sie zu ihrem Schutz unternommen?
Schwittek: Während des Truppenabzugs im letzten Jahr haben wir versucht, unsere Angestellten zu retten, indem wir eine Liste an das deutsche Auswärtige Amt schickten. Dieses stellte jedoch nicht die für die Evakuierung notwendigen Papiere aus. Einige unserer Angestellten gerieten in eine ernste Lage, vor allem in den ersten Wochen nach der Machtübernahme der Taliban. Bewaffnete wollten einen der für uns arbeitenden Männer entführen und an die Taliban ausliefern. Unser Büroleiter wurde telefonisch gewarnt, dass Bewaffnete in der Straße sind und nach ihm suchen. Ich denke, eine Lösung kann nur über diplomatische Kanäle gefunden werden. Auf internationaler Ebene ist Afghanistan dringend auf Hilfe angewiesen und vielleicht können dadurch Bedingungen gestellt und eine Zusammenarbeit begonnen werden. Derzeit zahlen wir unseren Angestellten noch ihre Gehälter, es gibt jedoch ein Problem mit den Banken.
Zineb & Ehsan: Trotz der gefährlichen und schwierigen Situation haben Sie vielen Kindern Bildung zukommen lassen. Worin liegt der Schlüssel zu diesem Erfolg?
Schwittek: Bei Ofarin wandten wir dieselben Methoden wie in deutschen Schulen an. Der Unterschied zwischen dem Lehrplan von Ofarin und dem des staatlichen Schulsystems war beachtlich. Die Schulen in Afghanistan waren nicht in der Lage, ihre Aufgabe fortzusetzen, in den Schulen von Ofarin dagegen wurden sehr gute Ergebnisse erzielt. Als der Krieg in Afghanistan zu Ende war, wurde nichts unternommen, um das Schulsystem zu verbessern. Die internationale Gemeinschaft zahlte viel Geld an die staatlichen Träger, an Schulen, die Armee und die Verwaltung, jedoch ohne Unterstützungsangebote oder Anweisungen dazuzuliefern, wie gearbeitet werden soll, daher waren die Fortschritte nicht befriedigend.
Zineb & Ehsan: Warum halten Sie Ihre Unterrichtsmethoden für besser als die der staatlichen Schulen in Afghanistan?
Schwittek: Ich denke, die Methoden der staatlichen Schulen sind ineffizient. Ich glaube nicht, dass die Erziehungsmethoden für Kinder einfach zu verstehen sind. Wenn ein Mädchen in der 11. Klasse nicht in der Lage ist, ganz einfache Mathematikaufgaben zu lösen, gibt es ein Problem. Erziehung braucht Geduld und Planung, diese Regeln werden von der afghanischen Verwaltung jedoch missachtet. Wir respektieren diese Prinzipien in unseren Schulen in einer sehr friedvollen Atmosphäre. Einige Lehrerinnen und Lehrer der öffentlichen Schulen haben keine Geduld und werden manchmal gewalttätig. Es existiert auch ein Kapazitätsproblem: Es gibt Klassen mit siebzig Kindern, und das in den ersten Schuljahren. Es ist unmöglich, so zu unterrichten.
Zineb & Ehsan: In Anbetracht der Tatsache, dass durch einige schriftlichen Quellen des Islam Leserinnen und Leser zu radikalem Handeln gebracht werden können: Ist es wahrscheinlich, dass diese Kinder, die Bildung erhalten haben, künftig in den radikalen Islam hineingezogen werden?
Schwittek: Die Regierung mag wollen, dass diese Kinder oder Personen bestimmte Bücher lesen, von Nachbarn oder der Familie bekommen sie aber andere Bücher. Wer des Lesens mächtig ist, kann also ganz verschiedene Dinge lesen. Wir haben keine Kontrolle darüber und ich glaube nicht, dass wir ein Recht dazu haben, den Menschen ihre Zukunft vorzuschreiben. Wir wollen sie zu eigenem Handeln befähigen und für ein gutes Klima zwischen den Lehrkräften und den Menschen sorgen.
Zineb & Ehsan: Welche Bedeutung hat Bildung für afghanische Mütter?
Schwittek: Frauen müssen in Afghanistan tagtäglich zu viele Aufgaben erfüllen. Sie sind mit archaischen Pflichten im Haushalt überladen: Kochen, Wäsche waschen, eine große Zahl von Kindern großziehen. Und durch diese Verpflichtungen werden sie davon abgehalten, zu lernen und ein Mindestmaß an Bildung zu erlangen. Die Kinder haben dann einen sehr geringen Wissensstand, wenn sie in die Schule kommen – aufgrund des Analphabetismus ihrer Mütter. Dabei sind sie sehr offen und durchaus bereit, Neues zu lernen. Ich arbeite seit 20 Jahren in diesem Projekt und kann sagen, dass die Ursachen der Probleme bei der Verwaltung und den Regierungsstellen liegen. Ich hoffe, das die Dinge sich zum Besseren wenden, vor allem für die afghanischen Frauen.