Ausstellungsbesucherinnen und -besucher vor Fotografie von Leila Alaoui

Aktivistin hinter der Linse

Als die junge Fotografin Leila Alaoui 2016 bei einem Terroranschlag erschossen wird, erhält ihr Aktivismus gegen Rassismus neue Aufmerksamkeit. In der ifa-Galerie Stuttgart spricht ihre Mutter Christine Alaoui über Leilas Verbindung zu den Menschen, die sie fotografiert hat, und wie ihr Vermächtnis weitergeführt werden soll.

 

ifa: Noch bis zum 5. April 2020 können Besucherinnen und Besucher die Ausstellung "Leila Alaoui" in der ifa-Galerie Stuttgart besuchen. Diese Retrospektive zeigt Fotografien Ihrer Tochter aus verschiedenen Serien. Wie möchten Sie Leilas Vermächtnis in Zukunft weiterführen?

Christine Alaoui: Als eine Möglichkeit, ihr Engagement fortzusetzen, eine Möglichkeit, das fortzusetzen, wofür sie ihr ganzes Leben lang gekämpft hat. Widerstand gegen Gewalt und mehr Verständnis für die Menschen – das war ihre Botschaft, die jetzt über Marokko hinaus erlebbar wird. Leila ist zu einer prominenten Figur geworden, vor allem für junge Menschen in Marokko. Sie hatten noch nie ein Vorbild wie sie.

ifa: Leila bewegte sich immer zwischen den Themen Migration, Identität und Minderheiten. Welche Auswirkungen hatten ihre Fotografien auf die jeweiligen Themenfelder, in denen sie arbeitete?

Alaoui: In Marokko hat Leila einiges in Bewegung gesetzt. Nachdem die Leute ihre Fotos gesehen hatten, wurden neue Gesetze gegen Rassismus verabschiedet. Ihre Arbeit fand vor allem bei jungen Menschen Anklang, die ihren eigenen Rassismus nie in Frage gestellt hatten. Als sie durch Leila damit konfrontiert wurden, stellte das ihre Weitsicht in Frage. Sie regte Menschen zum Nachdenken an.

Mit einem neuen Projekt für den US-Markt wuchs Leilas Einfluss. In Frankreich gibt es den sogenannten "Dschungel von Calais", ein Lager für Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten, in dem Menschen aus Afrika und Marokko unter schrecklichen Bedingungen lebten, während sie auf die Überfahrt nach England warteten. Eine Freundin, die für die New York Times arbeitete, beauftragte Leila, dort Fotos zu machen. Damit begann ihre Botschaft auch in den Vereinigten Staaten Aufmerksamkeit zu erlangen.

"Sie sprach nie negativ über Menschen und hatte unendlichen Respekt vor den Menschen, die sie fotografierte."

ifa: Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen. Wie sah Leilas Arbeit hinter der Kamera aus?

Alaoui: Leila hat oft unter schwierigen Bedingungen gearbeitet, was man auf den Bildern nicht sieht. Für ein bestimmtes Bild musste sie an einen verlassenen Strand gehen. Die Männer, die sie fotografieren wollte, versuchten, nach Spanien zu kommen. Sie mussten Marokko von einem Ort aus verlassen, an dem sie niemand finden konnte. Das sind sehr misstrauische und verzweifelte Menschen, die nichts zu verlieren haben. Wenn ihr etwas passiert wäre, hätte sie tagelang niemand gefunden.

Wenn sie Projekte wie "Crossings" durchführte, war Leila während des gesamten Prozesses auf sich allein gestellt. Für ihre Fotoserie "Les Marocains" reiste sie durch die ländlichen Gebiete Marokkos und musste schwere Geräte transportieren, um ein mobiles Studio aufzubauen. In diesen Fällen hatte sie einen Fahrer, der ihr half.

ifa: Mit ihrer Arbeit kritisierte Leila oft die Politik der Länder, in denen sie arbeitete, indem sie offen gegen Rassismus und die Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten vorging. Wie hat das die Reaktionen der Menschen auf sie beeinflusst? Mit welchen Schwierigkeiten sah sie sich bei ihrer Arbeit konfrontiert?

Alaoui: Sie hat einen Film gegen Rassismus in Marokko gedreht, der nie im Fernsehen gezeigt wurde, weil die Regierung mit ihrer Arbeit nicht einverstanden war. Ihnen missfiel Leilas Aussage: "Marrokaner sind rassistisch". Für ihr Projekt "Crossings" arbeitete sie an armen Orten der Subsahara-Region. In diesen Teilen des Landes gibt es viel Rassismus. Als die Menschen vor Ort sie sahen, spuckten sie Leila an und beleidigten sie. Aber sie hat nie viel über derartige Erfahrungen gesprochen.

Leila war eine mutige Künstlerin. Die meisten Menschen haben immer noch Angst vor der Regierung und der Politik. In Leilas Augen zensieren sich viele Künstlerinnen und Künstler aus Angst selbst. Man kann in Marokko viel sagen, solange man die Monarchie und die politischen Angelegenheiten nicht berührt. Aber sie tat dies ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Und es war noch außergewöhnlicher, weil es von einer jungen Frau kam.

ifa: Leilas einzigartiger Fotografie-Stil löst bei den Betrachtenden starke Reaktionen aus. Manche Besucherinnen und Besucher weinen, wenn sie die Menschen auf den Bildern betrachten. Wie kann Leilas Arbeit so berühren?

Alaoui: Menschen, die Leila nie kennen gelernt haben, sind von ihrer Arbeit verblüfft, weil Leila etwas Besonderes an sich hatte, das man auch auf ihren Fotos sehen kann. Viele Menschen weinen, wenn sie sie anschauen. Leila hat die Menschen auf den Fotos unglaublich schön aussehen lassen, und sie war wirklich gut darin, die Schönheit der Fotografierten zu unterstreichen. Sie sprach nie negativ über Menschen und hatte unendlichen Respekt vor den Menschen, die sie fotografierte. Das hat diese Bilder überhaupt erst möglich gemacht. Sie war eine so unbeschwerte, sorglose Person, die zudem sehr diskret war. Sie war lieb zu allen, einfach menschlich. Deshalb waren die Menschen so bewegt von ihr. Sie hat sich selbst nie in den Vordergrund gestellt.

"Leila drängte mich immer, meine Arbeit zu zeigen."

ifa: Sie sind selbst Fotografin. Leila hat einige Ihrer Bilder aus den 1970er Jahren in eine ihrer Ausstellungen aufgenommen. Wie hat Leila Ihre Arbeit beeinflusst?

Alaoui: Als ich Leila das letzte Mal gesehen habe, hatte ich viele meiner alten Negative mitgebracht, um sie in ihrem Atelier scannen zu lassen. Nachdem die Scans fertig waren, holte Leila sie ab und wählte sechzehn meiner Fotos aus. Diese schickte sie mir und sagte: "Wir brauchen noch ein paar mehr". Leila wollte die Bilder in eine ihrer eigenen Ausstellungen integrieren.

Leila drängte mich immer, meine Arbeiten zu zeigen, was ich nie tat. Sie hat mich an einem Dienstag um mehr Bilder gebeten. Am Freitag wurde sie erschossen und starb am nächsten Morgen. Es fühlte sich an wie eine Botschaft von ihr, die mir sagte, ich solle der Welt meine Bilder zeigen. Also beschloss ich, meine Fotos in der Ausstellung zu zeigen, die sie kurz vor ihrem Tod organisiert hatte.

ifa: Zwei Fotografinnen in einer Familie – wo lagen die Unterschiede in Ihrer Arbeit?

Alaoui: Ich fotografiere seit meiner Kindheit – seit ich zehn Jahre alt bin. Später kam Leila mit in mein Fotolabor, wo ich die Bilder entwickelt habe. Auf diese Weise hat sie immer mit mir fotografiert. Aber ich sage oft: "Leila war keine normale Fotografin". Sie benutzte die Fotografie für eine Sache, nicht nur um Bilder zu machen. Ich dagegen hatte immer eine Kamera bei mir, also bin ich in diesem Sinne die "normale Fotografin".

ifa: Sie sind Vorsitzende der Fondation Leila Alaoui. Was möchten Sie mit der Stiftung erreichen?

Alaoui: Das Ziel ist es, Leilas Werte zu bewahren. Wir suchen derzeit nach einem Ort, an dem wir ihre Arbeit in einer Dauerausstellung zeigen können. Leila war sehr produktiv: Sie war jung und arbeitete viel. Als Reporterin und Fotografin hatte sie viele Projekte. Wir mussten sogar einen Kunsthistoriker einstellen, um das ganze Material zu erfassen. Sobald wir einen Ort für die Stiftung haben, können wir Fotografinnen und Fotografen einladen, die auch aktivistisch tätig sind und ähnlich arbeiten wie Leila. Ich möchte auch jungen Künstlerinnen und Künstlern helfen. Ich tue das bereits auf eigene Faust, wenn ich jemanden Interessantes treffe. Mit der Fondation Leila Alaoui können wir dann aber beginnen, Geld für sinnvolle Projekte zu sammeln, Ausstellungen weltweit zu organisieren und etwas zu bewegen.


Interview von Svenja Schlicht

Über Christine Alaoui

Christine Alaoui ist eine französische Fotografin, die in Marokko lebt. Nach dem Tod ihrer Tochter Leila Alaoui im Jahr 2016 gründete sie die Fondation Leila Alaoui, mit der sie die Arbeit ihrer Tochter fortsetzen und junge Künstlerinnen und Künstler unterstützen will. Wanderausstellungen mit ihren eigenen Werken sowie Arbeiten von Leila Alaoui sind in Galerien weltweit zu sehen.

Über die ifa-Galerie Stuttgart

Die Ausstellung "Leila Alaoui" zeigt in einer Retrospektive Fotografien von vier Werksgruppen der Künstlerin und ist noch bis zum 5. April 2020 in der ifa-Galerie Stuttgart zu sehen.
In der ifa-Galerie Stuttgart werden seit 1971 in wechselnden Ausstellungen aktuelle kultur- und gesellschaftspolitische Entwicklungen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa thematisiert.
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